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Alarmierende Studie

Geldsorgen halten Abiturienten vom Studium ab

Von Christoph Titz

Chaos an den Unis, marode Gebäude - doch die Studenten studieren so gern wie nie zuvor, behaupten Bildungspolitiker. Das stimmt nicht: Einer neuen Studie zufolge fängt ein Drittel der potentiellen Studenten kein Studium an, weil es ihnen am Geld fehlt und Studiengebühren sie abschrecken.

Man kann es drehen, wie man will: Wenn junge Leute an eine Uni oder Fachhochschule gehen könnten, aber nicht wollen, liegt es vor allem am Geld.

Wie stark Geldsorgen verhindern, dass in Deutschland mehr Schulabgänger ein Studium beginnen, belegt die vorläufige Fassung einer Studie, die SPIEGEL ONLINE vorliegt. Danach lässt ein knappes Drittel der potentiellen Studenten das Ticket für ein Hochschulstudium ungenutzt verfallen - vor allem, weil sie fürchten, sich ein Studium nicht leisten zu können, oder weil sie schnell eigenes Geld verdienen wollen.

31 Prozent der Schulabgänger mit Hochschulreife des Jahres 2008 haben ein halbes Jahr nach ihrem Schulabschluss nicht die Absicht, an einer Universität oder Fachhochschule zu studieren. Demgegenüber haben 44 Prozent der Abschlussklasse 2008 bereits ein Studium aufgenommen, 25 gaben an, dies "sicher" zu planen.

Erstellt haben die Studie die Forscher des Hochschulinformations-Systems (HIS) im Auftrag des Bundesbildungsministeriums. Sie befragten 6100 Schulabgänger aus dem Jahr 2008 ein halbes Jahr nach Schulabgang, der vorläufige Bericht basiert auf etwa der Hälfte der Antwortbögen, die Autoren nennen ihn Projektbericht - sind aber sicher, dass das Endergebnis maximal um ein bis zwei Prozentpunkten schwanken wird.

Bis zu 86.000 Schulabgänger lassen ihr Hochschul-Ticket verfallen

Die Forscher fragten genau danach, warum rund 86.000 potentielle Studenten dem deutschen Hochschulwesen verloren gehen. Sie unterschieden nach inhaltlichen und formalen Gründen. An der Spitze lagen zwei Gründe gegen das Studieren gleichauf: der Wunsch, "möglichst bald selbst Geld zu verdienen", und die Sorge um fehlende "nötige finanzielle Voraussetzungen". 77 Prozent der Schulabgänger mit Hochschulreife aber ohne Studienwunsch gaben an, diese Gründe hielten sie "sehr stark" von einem Studium ab.

Weitere 73 Prozent kreuzten an, ihnen widerstrebe es besonders, sich für einen Studienkredit oder das Bafög zu verschulden. 69 Prozent gaben an, sie gingen nicht an eine Hochschule, weil die Studiengebühren ihre finanziellen Möglichkeiten überstiegen.

Was die Erhebung auch belegte: Die Studierneigung der Schulabgänger mit Hochschulreife stagniert, in den vergangenen Jahren war sie kontinuierlich gesunken. Nahmen 2002 noch 73 Prozent eines Abi-Jahrgangs ein Studium auf oder hatten dies fest vor, sank die Quote von da ab kontinuierlich auf zuletzt 68 Prozent im Jahr 2006. Dieser negative Trend sei nun "zumindest gestoppt", analysieren die HIS-Forscher. Ihr vorläufiges Ergebnis gibt die Quote jetzt mit 69 Prozent an.

Erstsemesterboom als statistische Größe

Demnach ist es nicht so, dass immer mehr junge Menschen ihre Begeisterung für ein Studium entdecken, wie das Bildungspolitiker angesichts steigender Erstsemesterzahlen gern behaupten - allen voran Bundesministerin Annette Schavan (CDU). Zwar legte das Statistische Bundesamt kürzlich mit gut 423.000 neu eingeschriebenen Studenten im Jahr 2009 einen neuen Erstsemesterrekord vor, was gut 43 Prozent des Altersjahrgangs entspricht.

Doch diese Spitzenwerte sind den doppelten Abitur-Jahrgängen im Saarland, in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ebenso geschuldet, wie dem auf lange Zeit letzten geburtenstarken Jahrgang: 1990 kamen in Deutschland 905.000 Kinder zur Welt, seitdem bröckelt die Zahl steil und beinahe kontinuierlich ab. Diese Welle kommt aktuell in den Unis an. Schavan feiert die Zahl trotzdem als Erfolg, zuletzt jubelte sie im Talk bei "Anne Will" am Sonntag über die Anzahl der Uni-Frischlinge:

Die Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, Ulla Burchardt (SPD), sagte dazu, die Begeisterung Schavans sei "verfrüht". Seit Jahren sinke die Studierneigung, wenn man das Verhältnis von Abiturientenzahl und den tatsächlichen Neueinschreibungen betrachte. Die entsprechende Analyse über Sorgen und Motive des Abiturientenjahrganges 2008, die SPIEGEL ONLINE jetzt vorliegt, halte das Minsterium seit Monaten zurück, klagte Burchardt noch Ende November. Inzwischen liegt das Papier auch im Bildungsausschuss des Bundestages, der Mitte Dezember darüber beraten will.

Mit Stipendien für die Besten gegen die Geldsorgen?

Am Mittwoch hatte Bundespräsident Horst Köhler in Leipzig eine Mängelliste des Hochschulwesens präsentiert, die Schulabgänger eher von einem Studium abschrecken als sie dafür begeistern dürfte: Marode Unigebäude, miserable Infrastruktur und die Hochschulen chronisch unterfinanziert - Köhler, Mahner von Amts wegen, ging in seiner Rede verantwortliche Politiker hart an. Sie sollten aufhören, ihre Bildungsausgaben schön zu rechnen, sondern mehr in die Hochschulen investieren.

Eine große Studienbremse ist laut der HIS-Studie die Campusmaut. Die bis zu 500 Euro pro Semester werden seit drei bis vier Jahren in fünf Bundesländern von den Studenten kassiert. Zweck der Maut war neben einem Finanzplus für die Hochschulen von Anfang an mehr Zug im Studium. Es sollte Druck entstehen auf sogenannte Bummelstudenten: Unentschiedene sollten sich nicht mehr an den Hochschulen herumdrücken, und die, die kamen, sollten möglichst schnell studieren - Studiengebühren als Abschreckung. In Hessen sind die Studiengebühren seit anderthalb Jahren wieder abgeschafft, im Saarland soll es bald soweit sein. Das kleine Land verzeichnete im November mit 15 Prozent Zuwachs den stärksten Anstieg der Erstsemesterzahlen 2009.

Schon in der vergangenen Untersuchung des Absolventenjahrgangs 2006 mahnten die Forscher, 18.000 Schüler mit Hochschulreife hätten ein Studium nicht angetreten, weil sie wegen der Studiengebühren davor zurückschreckten. Auch damals rangierten neben der Gebühr finanzielle Nöte und der Wunsch, Geld zu verdienen, ganz vorn in der Liste der Gründe gegen ein Studium. Das Ergebnis veröffentlichte Schavans Ministerium damals erst im Herbst, nach dem Dresdner Bildungsgipfel - obwohl die HIS-Untersuchung , wie eine Ministeriumssprecherin bestätigte.

Vor allem junge Frauen trauen sich nicht zu studieren

Abmildern wollen Bund und Länder die Geldsorgen der Studenten mit einer Bafög-Erhöhung ab dem Oktober 2010 - doch wichtiger als mehr Geld für alle ist der schwarz-gelben Bundesregierung die Studienfinanzierung nach dem Leistungsprinzip für wenige. Ein Stipendienmodell, zur Hälfte staatlich zur anderen Hälfte privat und aus der Wirtschaft finanziert, soll die besten zehn Prozent mit 300 Euro monatlich ausstatten. Ein Anfang, aber noch fern der Umsetzung und keine sichere Basis, auf der sich unentschiedene (Fach-)Abiturienten für ein Studium entscheiden können. Die für kommendes Jahr geplante Bafög-Erhöhung ist angesichts der Stipendienpläne wohl als sanftes Druckmittel zu verstehen: Der Bund erhöht seinen Anteil am Bafög nur, wenn die Länder das teils ungeliebte Stipendiensystem durchwinken.

Bedenklich ist an den vorläufigen HIS-Ergebnissen außerdem, dass mehr weibliche als männliche Schulabgänger mit Hochschulreife nicht studieren wollen (36 Prozent gegenüber nur 25 Prozent bei Männern). Bei den jungen Frauen gaben drei Viertel der Studienunwilligen an, Studiengebühren schreckten sie ab, bei den Männern fühlten sich nur 57 Prozent von der Campusmaut "sehr stark" vom Studieren abgehalten. Frauen seien "risikoaverser", nennen das die Forscher: Sie verschulden sich weniger gern als Männer.

Dieser Gruppe, aber auch den anderen Zweiflern mit Geldproblemen helfen Studienkredite, ein Bafög, das zur Hälfte zurückgezahlt werden muss, oder die vage Aussicht auf ein mögliches Stipendium kaum weiter, kritisiert Kai Gehring, hochschulpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Mit der hohen Zahl der weiblichen Studienverweigerer würden "weibliche Talente vergeudet", sagte Gehring SPIEGEL ONLINE.