Die Gewaltlosigkeit als Philosophie und Strategie
Jean-Marie Muller Die Gewaltlosigkeit als Philosophie und Strategie
aus dem Französischen Katharina Horn
Vortrag auf der Tagung des Internationalen Versöhnungsbundes „Pazifismus heute" vom 15.-17.10.2004 in Magdeburg
Wenn wir versuchen, eine Bilanz des 20. Jahrhunderts zu ziehen, dann bemerken wir, dass der Wertfaktor, mit der wir diese Bilanz beziffern, eine Million Tote ist. Und leider müssen wir anerkennen, dass das 21. Jahrhundert nicht gerade unter besseren Vorzeichen begonnen hat. Tag für Tag stellt die Gewalt im Zentrum der Nachrichten. Praktisch jeden Abend werden wir zu „Tele-Voyeuren", die life und in Farbe dem mechanisierten Todesspiel zusehen, das Menschen gegen andere Menschen spielen. Und tatsächlich reflektieren wir nicht das Ereignis selbst, sondern wir reagieren auf die Bilder, die uns von diesem Ereignis vorgesetzt werden. Diese Bilder sind Bilder der Waffen, des Feuers und des Blutes. Die Gewalt ist besonders fotogen. Diese Bilder erzeugen weniger eine öffentliche Meinung denn eine öffentliche Emotion. Und Emotionen sind extrem fragil. Wir neigen dazu, von einer in die andere zu fallen, entsprechend der Bilder, die auf uns einströmen. Wir fühlen uns ohnmächtig und haben das Gefühl die Gewalt laste auf unserer Geschichte wie ein großes Unheil, ohne dass wir die Macht hätten, uns aus diesem Joch zu befreien.
Wir riskieren, eine gewisse Ideologie zu verinnerlichen, die unsere Gesellschaften dominiert. Eine Ideologie, die ich die Ideologie einer notwendigen, legitimen und ehrenhaften Gewalt nenne. Notwendig, legitim und ehrenhaft. Jedes dieser drei Wörter ist genauso bedeutsam wie die anderen beiden. Und die Helden, die wir bewundern sollen, seien es Helden aus Legenden oder aus der Geschichte, sind praktisch immer gewalttätige Helden. In einem solchen Kontext erscheint es schwierig von Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit zu sprechen. Das Wort selbst ist unserer Kultur und unseren Traditionen fremd. Unsere Traditionen haben der Gewalt einen großen und schönen Platz eingeräumt bis dahin, den Begriff der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit zu ignorieren. Und diese Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit wird häufig durch einen Schleier von Missverständnissen, Verwirrungen und Widersprüchlichkeiten wahrgenommen und auf eine negative Art und Weise. Vielleicht gar auf karikierende Art. Ich möchte deswegen nun zuerst die Bedeutung der Worte präzisieren, die wir so häufig benutzen, um uns über ihren Sinngehalt zu einigen. Man muss gut unterscheiden, was wir leider so oft verwechseln. Ich werde den Konflikt, die Aggressivität, den Kampf, die Kraft und die Gewalt voneinander abgrenzen, um letztendlich die Bedeutung von Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit herauszuarbeiten.
Zu Beginn steht der Konflikt. Wir sind ständig - auf der persönlichen, sozialen und politischen Ebene - Konflikten ausgesetzt, wenn auch nur potenziell.
Es ist banal zu sagen, der Mensch sei ein Beziehungswesen, zu sagen, er könne seine Identität, seine Persönlichkeit nur in Relation zu einem anderen Menschen entwickeln. Das erste Zusammentreffen mit einem anderen Menschen ist stets geprägt von Misstrauen, von Feindseligkeit, von Auseinandersetzung und Opposition. Also, von Konflikt. Den anderen, der sich mir nähert, obwohl ich ihn nicht dazu aufgefordert habe, nehme ich wahr als jemanden, der die Absicht hat, mir meinen Platz streitig zu machen, mich zu stören. Das Zusammentreffen mit einem Anderen stellt eine Störung dar. Der andere, das ist der, dessen Rechte in Opposition zu meinen Rechten stehen, der, dessen Wünsche meine eigenen Wünsche in Gefahr bringen, dessen Pläne meine eigenen Pläne ins Wanken bringen, dessen Freiheit meine eigene Freiheit beschneidet. Dessen Existenz also eine Bedrohung für meine eigene Existenz darstellt. Sehr oft habe ich Angst vor dem Anderen und wir müssen diese Angst, die in uns ist, anerkennen. Sie nicht verdrängen. Wir müssen sie anerkennen, sie akzeptieren, sie zähmen in der Art und Weise, dass wir sie in etwas anderes umformen können und uns nicht von ihr beherrschen lassen.
Sie kennen wahrscheinlich die Hypothese von René Girard: wenn wir mehrere sind, wenigstens zwei, die wir dasselbe Objekt besitzen möchten, dann treten wir augenblicklich in eine Situation der Rivalität und des Konfliktes.
Sie kennen das Experiment, in dem man zwei Kinder in ein Zimmer setzt und ihnen zehn Spielzeuge zur Verfügung stellt. Das erste Kind bemächtigt sich eines Spielzeugs... was glauben Sie wohl, was das andere Kind haben möchte? Ihm bleiben, wenn ich richtig rechne, neun andere Spielzeuge, genauso schön, wie die anderen, aber natürlich wird es dasselbe Spielzeug haben wollen wie das erste Kind. Es wird nicht lange nachdenken, es wird seiner unumstößlichen Intuition folgen, dass, wenn dieses Spielzeug ausgesucht wurde, es sich dabei um das begehrenswerteste handeln muss. Es wird also versuchen, es dem anderen aus den Händen zu reißen und vielleicht werden sie das Spielzeug auch fallen lassen und handgreiflich werden. Vielleicht wird es ihnen auch lieber sein, das Spielzeug kaputt zu machen, damit der andere daran keinen Spaß mehr haben kann. Ich habe ein einfaches Beispiel unter Kindern ausgewählt; ich bin mir sicher, es wird ihnen nicht schwerfallen, viele andere Beispiele aus dem Leben Erwachsener zu finden, die nichts anderes sind als große Kinder.
Rivalität also um den Besitz desselben Objekts. Wichtig wäre, auf intelligente Weise zu versuchen, vom Objekt ausgehend zu verhandeln, das Objekt im Zentrum des Konfliktes zu halten und dafür zu sorgen, dass der Konflikt nicht in Gewalt ausartet.
Um den Konflikt, der mir Angst macht, auszuleben, muss ich meine eigene Aggressivität ausdrücken. Es ist von großer Bedeutung zu präzisieren, dass das Wort Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit Aggressivität nicht negiert und abstreitet. Die Aggressivität ist eine konstitutive Kraft meiner eigenen Persönlichkeit. Sie ist mein Kampfgeist, der es mir möglich macht, dem Anderen im Konflikt zu begegnen, um mich für die Anerkennung meiner Rechte einzusetzen und um vielleicht zur Anerkennung der Rechte des Anderen zu gelangen, das heißt, um eine Beziehung, die sich auf Gerechtigkeit gründet, zu schaffen. Wenn ich mich auf die Etymologie des Wortes Aggressivität beziehe, komme ich zum lateinischen Wort „ad-gradi", das „zugehen auf" bedeutet. Aggressivität stellt eine Kraft dar, die es mir möglich macht auf den anderen zuzugehen. Nehmen wir das klassische Beispiel des Herrn und des Sklaven. Solange der Sklave seinem Herrn unterworfen ist, gibt es keinen Konflikt. Dies ist der sogenannte soziale Friede, die etablierte Ordnung, obwohl man wohl von etablierter Unordnung sprechen müsste, aber es gibt keine Gewalt auf dem öffentlichen Platz. Dies bedeutet aber nicht, dass es gleichzeitig auch Gerechtigkeit gibt. Erst wenn der Sklave den Mut hat, sich zu erheben und auf seinen Herrn zuzugehen, um die Anerkennung seiner Rechte zu fordern, erst dann haben wir es mit einem Konflikt zu tun.
Nehmen wir das Beispiel von Martin Luther King. Bis zum Ausbruch des Kampfes für die Bürgerrechte, lebten die Schwarzen, die Nachkommen der Sklaven, die aus Afrika eingeschleppt worden waren, auf gewisse Art mit dem weißen Rassismus, der sich in den verschiedensten Gesetzen der Rassentrennung äußerte und hatten sich gewissermaßen an ihn gewöhnt. In den öffentlichen Verkehrsmitteln mussten die Schwarzen ihren Sitzplatz Weißen überlassen. Eines Abends weigert sich eine schwarze Frau, müde von ihrem Arbeitstag, ihren Platz einem Weißen zu überlassen. An der nächsten Haltestelle kommt der Busfahrer auf sie zu und befiehlt ihr aufzustehen, sie weigert sich. Die Polizei wird gerufen, sie widersetzt sich noch immer und wird auf das Kommissariat geführt. Die Schwarzen erfahren von diesem Ereignis und entscheiden, dass sie dieses Mal nicht bereit sind nachzugeben. Dieses Mal war es nicht mehr möglich, angesichts der Ungerechtigkeit durch die weiße rassistische Regierung zu resignieren. Sie versammeln sich und beschließen, den Widerstand und den Boykott der Autobusse zu organisieren, bis dieses Gesetz abgeschafft sein würde. Sie wenden sich an den jungen Pfarrer Martin Luther King, der am Abend der Versammlung nicht zugegen war und bitten ihn, der Sprecher ihrer Gemeinschaft zu werden. Martin Luther King weckt die Aggressivität der Schwarzen, um ihnen den Mut zu geben, auf die Straße zu gehen und auf die Repräsentanten der weißen Macht, das heißt zuerst die Polizisten und die Polizeihunde zuzugehen. Er glaubte, dass es sehr schnell möglich werden würde, eine Lösung mit den Besitzern der öffentlichen Verkehrsmittel auszuhandeln; tatsächlich dauerte es dann ein ganzes Jahr, um die Gerechtigkeit durchzusetzen. Letzten Endes kam zu einer friedlichen Erhebung der schwarzen Bevölkerung überall in den USA.
Es muss also darum gehen, die Aggressivität zu wecken, um den Konflikt mit dem Anderen auszuleben, um zur Anerkennung der eigenen Rechte zu gelangen. Also, in den Kampf zu ziehen. Dieser Moment des Kampfes auf dem Weg zu Gerechtigkeit ist unvermeidlich. Ich glaube, um die Gewalt zu diskreditieren, ist es essentiell, den Konflikt, die Aggressivität, den Kampf zu rehabilitieren. Der Kampf ist ein unumgänglicher Schritt, um die Gerechtigkeit herzustellen. Es stimmt, dass die Existenz selbst einen lebenslangen Kampf darstellt. Sehr häufig lehnen manche Glaubensrichtungen das Moment des Kampfes als ein Moment der Unordnung ab, obwohl dieses notwenig ist für die Wiederherstellung der Ordnung, d.h. für die Gerechtigkeit. In diesem Kampf geht es darum, das bestehende Kräfteverhältnis ändern zu können. Über ein bestimmtes Kräfteverhältnis, welches die Ungerechtigkeit etablieren will, ein neues Kräfteverhältnis herstellen, das die Wiederherstellung der Gerechtigkeit möglich macht.
Sicherlich wird Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit immer versuchen, die Möglichkeiten des Dialogs auszuschöpfen. Der Mensch ist v.a. ein Wesen des Wortes und der Sprache. Im gewaltfreien Kampf muss dafür gesorgt werden, dass das Wort nicht gebremst wird. Man könnte Gewalt als das Gegenteil des Wortes definieren. Die Gewalt stellt eine Verdrehung, eine Umkehrung der Menschlichkeit dar in dem Sinne, als dass sie dem Menschen den Raum entreißt, wo Worte und sprachlicher Austausch zwischen Menschen möglich sind. Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit wird sich also darum bemühen, während des gesamten Kampfes den Konfliktpartnern die Möglichkeit zu sprechen zu geben. Dafür zu sorgen, dass die Möglichkeiten des Dialogs sich entfalten. Aber oft ist der Dialog nicht möglich zwischen denjenigen, die Ungerechtigkeit erleben und denjenigen, die dafür verantwortlich sind. Das Ziel des Konfliktes wird es also sein, die Bedingungen für den Dialog zu schaffen, indem man denjenigen, die für die Ungerechtigkeit verantwortlich sind, dazu verhilft, den Dialog mit den Unterlegenen zu akzeptieren. Dafür genügt es nicht, an die Vernunft zu appellieren, es genügt nicht zu bekehren. Manchmal muss man im gewaltlosen Kampf auch zwingen.
Ich wähle ein anderes Beispiel: leider haben Sie wahrscheinlich noch nie von César Chavez gehört. Er war der Anführer der Landarbeiter in den USA in den 60er und 70er Jahren. Diese Landarbeiter stellen das klassische Beispiel einer unorganisierten, von den Landbesitzern ausgebeuteten Bevölkerungsgruppe dar. César Chavez wollte die Landarbeiter durch die Gründung einer Gewerkschaft organisieren. Er begann mit dem Versuch, einen Streik durchzuführen. Aber dieser Streik war nicht wirksam, denn es war sehr einfach für die Landbesitzer, nach Mexiko zu fahren und LKWs voller Streikbrecher ins Land zu holen. Letztendlich organisierte er einen Boykott, angefangen bei den Produkten der kalifornischen Weinberge. Er bat also die amerikanischen Konsumenten, keinen Wein mehr zu kaufen, bis die Besitzer eine Einigung mit den Arbeitern unterschreiben würden. Als ich César Chavez 1972 traf und es ihm schon gelungen war, einige Verträge mit Besitzern zu realisieren, habe ich ihn gefragt: „Haben die Landbesitzer zugestimmt, sich mit dir an den Verhandlungstisch zu setzen, weil du es geschafft hast, ihr Herz zu berühren?" Er antwortete mir: „Ja, ich habe das Herz der Landbesitzer berührt, denn das Herz der Landbesitzer ist ihr Portemonnaie und der Boykott hat ihr Portemonnaie berührt." Ich glaube, es braucht diesen Realismus für die gewaltfreie Aktion. Er zeigt, dass es nicht darum geht, von einer unmöglichen Versöhnung zu träumen, sondern tatsächlich etwas zu bewegen in einem Kampf, der, Gewalt ablehnend, trotzdem Zwangsmittel zu schaffen weiß.
Konflikt, Aggressivität, Kampf, Schlacht. Bis jetzt haben wir noch nicht von Gewalt gesprochen. Die Gewalt ist kein Reglement des Konfliktes, sondern stellt seine Störung dar. Die Gewalt interveniert im Konflikt, wenn wir nicht mehr bereit sind, eine Einigung auszuhandeln, einen Pakt, der es ermöglicht, eine gerechte Beziehung herzustellen, sondern vielmehr, wenn wir den Anderen ausschließen und eliminieren wollen. Jegliche Gewalt ist ein Prozess des Ausgrenzens, ja des Mordes. Das Ziel der Gewalt ist letztlich immer der Tod des Anderen. Meistens erreicht dieser Prozess dieses Ziel nicht, aber die Logik der Gewalt beruht darauf, den Tod des anderen anzustreben. Und wenn ich den Menschen als ein Beziehungswesen definiere, dann wird deutlich, wie die Gewalt eine radikale Pervertierung der Beziehung zu einem anderen Menschen darstellt. Sie stellt einen radikalen Widerspruch zu den tiefsten Bestrebungen der Menschen dar, die uns dazu anhalten, zu dem Anderen eine Relation der gegenseitigen Anerkennung, des gegenseitigen Respekts, sprechen wir gar nicht von gegenseitiger Liebe, aufzubauen. Jedoch können wir wenigstens versuchen, die Rechte des Anderen anzuerkennen. Die Gewalt ist immer ungerecht, wenn sie sich gegen ein anderes menschliches Wesen richtet. Ich glaube, es ist absolut notwendig, eine Definition von Gewalt zu formulieren, die es uns nicht mehr ermöglicht zu sagen, es gäbe auch gute Gewalt. Und das ist der Punkt, an dem wir einen Bruch mit der Kultur der Gewalt durchführen müssen. Denn die Kultur der Gewalt will uns glauben machen, Gewalt sei ein Menschenrecht. Von dem Moment an, da die Gewalt zu einem Menschenrecht oder gerechtfertigt wird, haben wir nicht mehr den Eindruck, dies könnte ein Widerspruch sein.
Von diesem Augenblick an kann sich Gewalt ungebremst entwickeln und verbreiten, sie wird zu einer Maschinerie, zu einem Getriebe. Ich glaube, dass der Mensch ein gerichtliches Tier ist. Er ist ein Tier in dem Sinne, als dass er zur Gewalt fähig ist. Im Allgemeinen sind Tiere viel weniger gewalttätig gegenüber ihren Artgenossen als die Menschen. Wir sagen von Menschen, die gewalttätig sind, sie benähmen sich wie Tiere. Das zu behaupten heißt, die Tiere zu verachten. Denn der Mensch ist ein Vernunftwesen, er ist zu einer Verfeinerung und Nuancierung der Gewalt in der Lage, wie es kein Tier wäre. Die Grausamkeit ist das Wesensmerkmal des Menschen, Tiere sind dazu nicht fähig. Der Mensch ist also ein Tier, was zur Gewalt fähig ist, aber er ist auch ein gerichtliches Tier, das immer das Bedürfnis der Rechtfertigung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen hat. Er muss immer beweisen, dass er im Recht ist. Also errichtet er rationale Doktrinen, die es ihm möglich machen, seine Gewalt zu rechtfertigen. Die Moralisten, die diese Doktrinen aufgestellt haben, werden versuchen, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Gewalt als legitim, als ein gerechter Krieg betrachtet wird. Die erste Bedingung lautet: Die Sache muss gerecht sein. Aber haben Sie schon mal irgendwo auf der Welt einen Menschen, eine Gemeinschaft, einen Staat, eine Nation gesehen, deren Sache nicht gerecht gewesen wäre. Die gerechte Sache ist laut Definition meine Sache. Und, entsprechend derselben Definition, ist die ungerechte Sache die Sache meines Gegners. Also, zu sagen, die Gewalt ist dann gerecht, wenn die Sache gerecht ist, heißt, die Gewalt zu rechtfertigen.
Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zeigen uns die Repräsentanten der Staaten, die mit Waffen auf einander losgehen, jeder behauptend, er repräsentiere das Gute, während der Andere das Böse verkörpere. Es gibt eine totale Einheitlichkeit dieser beiden Diskurse. Es ist also absolut notwendig, jegliche Rechtfertigungen von Gewalt zurückzuweisen. Die Kultur der Gewalt wird Gewalt nicht hochhalten und deutlich zeigen, sondern sie verschleiern. Sie wird dafür sorgen, dass Gewalt als eine Möglichkeit erscheint, das Gute herzustellen, die Gerechtigkeit und die Zivilisation zu verteidigen. Die Menschheit hat bis jetzt auf diesen Schemata existiert. Einige Männer und Frauen haben dennoch die Ausnahme gewagt und versucht, einer anderen Perspektive den Weg zu eröffnen. Die Kultur der Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit besteht also darin, mit allen Rechtfertigungen der Gewalt zu brechen.
Um das Wort Gewalt zu definieren, sagen wir einfach, die Gewalt besteht in einer Verletzung, der Verletzung der Menschlichkeit des Menschen. Es ist wichtig hervorzuheben, dass es sich nicht nur um die Verletzung der Menschlichkeit desjenigen handelt, der sie erleidet, sondern auch desjenigen, der sie ausübt. Die Philosophin Simone Weil, für die die Gewalt durch das Schwert symbolisiert wird, sagte: „Der kalte Stahl ist an der Spitze genauso tödlich wie am Griff."
Ich hatte Gelegenheit, Jacques Bollardière, den General der Französischen Armee, der sich dem Befehl zur Folter in Algerien widersetzt hatte, zu treffen und viele Jahre mit ihm zu arbeiten. Er sagte mir oft, dass er die Folter, selbstverständlich aus Respekt vor den Algeriern ablehnte, zu allererst aber vielleicht aus Respekt vor sich selbst. Denn er war der Überzeugung, dass die Folter viel stärker die Menschlichkeit des Folternden pervertiere als die des Gefolterten. Seiner Meinung nach war es unmöglich vorzugeben, irgendeine Zivilisation zu verteidigen durch den Einsatz von Folter, die einen Affront gegen den brüderlichen Dialog zwischen Menschen darstelle. Die Gewalt verletzt also v.a. die Menschlichkeit desjenigen, der sich ihrer bedient.
Man sagt oft, die Anhänger der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit seien Träumer, denn sie glaubten, der Mensch sei von Natur aus gut. Sie haben vielleicht in der Schule ein gutes Thema für einen schlechten Aufsatz in Philosophie oder Literatur bekommen: „Ist der Mensch von Natur aus schlecht oder gut?" Die Frage stellt sich jedoch nicht so. Ich glaube, der Mensch ist von Natur gut und schlecht. Ich beziehe mich auf eine Äußerung von Cyrulnik, wenn ich sage: „Der Mensch ist zu 100% gut und zu 100% schlecht." Das heißt, der Mensch hat eine Neigung zur Gewalt und gleichzeitig steht ihm Güte zur Disposition. Und wenn es in jedem von uns, in jedem menschlichen Wesen gleichzeitig diesen Hang zur Gewalt und die Disposition von Respekt gegenüber dem Anderen gibt, dann ist die Frage, welchen Teil wir davon in uns kultivieren wollen, auf persönlicher, kollektiver, sozialer und politischer Ebene. Leider haben wir die Gewalt der Kultur gegenüber der Kultur der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit privilegiert. Um seinen Garten zu bestellen, braucht man Gerätschaften. Um Gewalt anzuwenden, braucht man auch Geräte, die man im Allgemeinen "Waffen" nennt. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass unsere Kultur eine Kultur der Waffen ist. Nehmen wir als Beispiel das Symbol des Schwertes in unserer Kultur. Sie wissen, dass noch heute jene, von denen es heißt, sie repräsentierten die Philosophie, die Literatur, die Künste, mit einem Schwert ausgestattet werden, wenn sie den Rang der Unsterblichkeit erlangen. Sie werden sagen, dass sie dann natürlich nicht mehr die Kraft hätten, in den Krieg zu ziehen, trotzdem bleibt die Kriegswaffe als Symbol für ihre Würde. Wenn ein wichtiger Mann uns einen Besuch abstattet, dann präsentieren wir ihm die Waffensammlungen, auch wenn es sich um den Chef des Vatikans handelt.
Wir geben Milliarden aus, um Waffen und Massenvernichtungswaffen herzustellen, wobei wir nicht wirklich wissen, für wen sie gedacht sind. Ich möchte nur das kleinste Argument wissen, warum wir noch immer Nuklearwaffen fabrizieren. In den Zeiten des Kalten Kriegs hatten wir einen Gegner, einen Feind, der sehr interessant für uns war, denn er war für uns Träger aller Fehler und ließ uns annehmen, dass wir die gegensätzlichen Tugenden auf uns vereinten. Und wir wussten, dass unsere Waffen auf diesen Feind gerichtet waren, der für uns in diesem Moment das Reich des Bösen repräsentierte. Aber heutzutage fragt man sich, gegen wen unsere Nuklearwaffen sich richten. Ich glaube, das müsste eine demokratische Entscheidung sein, herauszufinden, wie man investiert, um den Frieden zu schaffen. Wir müssen die Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit kultivieren, also die Waffen der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit, das heißt die Methoden der gewaltfreien Konfliktlösung.
Wir leben mehr und mehr in multikulturellen Gesellschaften. Wichtig ist, dass es einen tatsächlichen Dialog der Kulturen gibt. Was diesen Dialog charakterisieren muss, ist, dass wir gemeinsame ethische Referenzen besitzen. Bis jetzt haben wir uns alle in unsere Partikularismen eingeschlossen. Die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird es sein herauszufinden, ob wir eine universelle Sprache, eine universelle Weisheit definieren können. Ich habe eine Schwäche dafür zu glauben, dass der Stein, auf dem wir diese universelle Weisheit errichten, die Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit sein wird. Darüber hinaus können wir als Regel für diese universelle Weisheit die „goldene Regel" heranziehen, die wir in allen spirituellen Traditionen wiederfinden. Die goldene Regel kennen wir alle, sie tritt uns zu allererst ex negativo entgegen: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg' auch keinem ander'n zu." Jedes Kind kann diese Regel verstehen. Es möchte nicht, dass man ihm seine Sachen wegnimmt. Und wenn es nicht möchte, dass man ihm seine Sachen kaputt macht, dann darf es niemand anderem seine Sachen kaputt macht. Das ist eine simple Überlegung. Und das was wir nicht möchten, ist, dass uns der Andere Gewalt antut. Die erste Forderung dieser goldenen Regel besteht also in der Forderung nach Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit. Man kann diese Regel auch auf positive Weise formulieren: „Tu dem anderen, was du möchtest, dass er dir tut." Und das, was wir von dem Andern möchten, das ist, dass er uns Gutes tut. Wir alle sind Bettler um Güte.
Man hat oft gesagt, dass das Wort Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit ambivalent, da es negativ formuliert sei. Ich würde sagen, im Gegenteil, dass es entscheidend ist in seiner Negativität. Man muss alle Rechtfertigungen zurückweisen, um der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit Raum zu geben. Wir finden in allen kulturellen Traditionen Plätze, an denen eine Philosophie der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit, eine Weisheit der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit errichtet werden kann.
Es reicht nicht, Gewalt zu verurteilen, man muss tatsächliche Alternativen für Gewalt finden, um Ungerechtigkeit zu bekämpfen und die Freiheit zu verteidigen. Wenn wir keine vorschlagen, dann riskieren wir, nicht anders zu können als gewalttätig zu sein. Ich sage nicht, es sei jedem zu jeder Zeit möglich zu vermeiden, Komplizin oder Komplize irgendeiner Gewalt zu werden. Es kann sein, dass wir unter besonderen Umständen nichts anderen zu tun wüssten als auf Gewalt zurückzugreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Es kann sein, dass wir das erleben, was ich die „schwarze Notwendigkeit der Gewalt" nenne. Aber es ist eben jener Moment, da wir uns mehr als je zuvor erinnern müssen, dass Gewalt einen Widerspruch darstellt, dass sie ein Verbot und eine Überschreitung darstellt, dass sie immer schlecht ist, ein Unglück und ein Drama. Es ist wichtig, dass wir es uns nicht so leicht machen, Gewalt zu rechtfertigen, auf die Art und Weise, dass wir es beim nächsten Mal gar nicht anders machen können. Denn wenn wir Gewalt rechtfertigen unter dem Vorwand der Notwendigkeit, dann machen wir Gewalt ganz sicher notwendig und schließen die Zukunft in der Notwendigkeit von Gewalt ein. Ich schätze den Gedanken Freuds, der im Krieg 1914-1918, selbst zwei Kinder unter den deutschen Soldaten wissend, weissagte, dass der Sieger an den triumphalen Zeremonien teilnehmen und die auf dem Schlachtfeld Gestorbenen vergessen würde. Aus Studien, die Ethnologen in Afrika durchgeführt hatten, wusste Freud, dass es in manchen afrikanischen Gemeinschaften folgendes Usus war: wenn die Männer siegreich vom Kampf zurückkehrten, reintegrierten sie sich nicht sofort wieder in ihre Gemeinschaft. Sie mussten eine mehr oder weniger lange Zeit damit verbringen, die Menschen, die sie getötet hatten, zu betrauern. Angesichts des Unterschiedes zwischen den Afrikanern, die ihre Feinde betrauerten und den Europäern, die triumphierend den Sieg über ihre Gegner feierten, fragte sich Freud, wer die Wilden, wer die Zivilisierten seien.
Um also im Lauf der Geschichte zu agieren, um verantwortlich zu sein gegenüber dem Ereignis, wird man Methoden und Strategien erfinden und ausdenken müssen. Im Hinblick auf die Überlegungen zur Gewaltlosigkeit gibt es ein vor und ein nach Gandhi. Er liefert uns keine fertigen Lösungen zu unseren Problemen, aber er liefert uns wenigstens die richtigen Fragen. Gandhi hat letztendlich die spirituelle Forderung und den politischen Realismus zu versöhnen vermocht. Die unsere Gesellschaft dominierenden Ideologien hingegen, führen einen Bruch zwischen spiritueller Forderung und politischem Realismus herbei. Sie kennen wahrscheinlich den Ausdruck von Max Weber, der von zwei Moralen sprach: es gebe die „Moral der Überzeugung", die Moral des Menschen, der saubere Hände hat, aber nicht aktiv wird. Er lehnt Engagement auf politischem Boden ab, denn dabei wird er sich die Hände schmutzig machen. Zum anderen gebe es die „Moral der Verantwortung", jenes des verantwortlichen Menschen, der sich politisch engagiert und der, so Weber, Gewalt nicht vermeiden kann. Ich glaube, man muss radikal mit dieser Problematik brechen. Gandhi hat uns gezeigt, dass es möglich ist, die Moral der Überzeugung und die Moral der Verantwortung zu versöhnen.
Gandhis Analyse der kolonialen Situation Indiens zeigte, dass, wenn einige Tausend Engländer einige Millionen Inder beherrschen können, dies nicht an der Fähigkeit zur Gewalt der Engländer läge, sondern an der Resignation, der Komplizenschaft, der Kollaboration der Inder. Ausgehend von diesen Analysen organisierte er Aktionen zur Brechung der kolonialen Ordnung, Aktionen zivilen Ungehorsams hinsichtlich der Kolonialgesetze. Gandhi war Anwalt, der wusste, dass jede Gesellschaft Gesetze braucht. Die Funktion des Gesetzes besteht darin, die Rechte aller zu garantieren. Wir können nicht zusammen spielen ohne Spielregeln. Das Wesensmerkmal des Gesetzes besteht darin zu verbieten. Das Gesetz muss umso mehr respektiert werden, um gerecht zu sein. Es ist normal, dass es in unseren Gesellschaften rechtliche Institutionen und Polizei gibt, die dafür sorgen, dass das Gesetz respektiert wird und jene unschädlich machen, die den Gesellschaftsvertrag nicht respektieren. Aber von dem Moment an, da das Gesetz ungerecht ist, besteht die Pflicht des Bürgers in Ungehorsam gegenüber dem Gesetz, damit er sich nicht zum Komplizen der Ungerechtigkeit macht. Warum haben die französischen Gerichte Monsieur Papon verurteilt? Weil er in seiner Funktion als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux den antisemitischen Gesetzen der Regierung in Vichy gehorchte. Das heißt, er hätte sich ihnen widersetzen müssen, dass sich alle Funktionäre Vichys sich ihnen hätten widersetzen müssen.
Wenn also das Gesetz ungerecht ist, dann muss man sich dem Gesetz widersetzen.
Gandhi organisierte also in Indien massive Kampagnen zivilen Ungehorsams. Die Aktion, die als die ausschlaggebende gilt, ging als „Salzmarsch" in die Geschichte ein. Er bat Inderinnen und Inder, sich dem Gesetz zu widersetzen, das ihnen vorschrieb, ihr Essen zu salzen, eine Steuer an den Kaiser Indiens, das heißt an den König von England, zu zahlen. Er sah in diesem hinterhältigen Gesetz das Symbol aller Ungerechtigkeit des kolonialen Systems. Er organisierte also eine pazifistische Auflehnung in ganz Indien indem er die Inder bat, dieses Gesetz zu verletzen. Zuerst sagten sich sowohl der Vize-König als auch die Anhänger Gandhis, wenn es Gandhi gefiele, in einem Kochtopf Meerwasser zu kochen, dann würde das nicht das britische Empire schwächen und Indien zur Unabhängigkeit verhelfen. Aber letztendlich wurde aus Gandhi nach und nach der ungekrönte König Indiens. Gandhi wurde ins Gefängnis gesteckt und all jene, die illegal Salz gewannen oder verkauften. Und als alle Gefängnisse überfüllt waren, musste man daran denken, sie wieder zu leeren. Der Vize-König entschied also, Gandhi zu befreien und willigte in Verhandlungen mit ihm ein. Und wenn wir uns den Moment vorstellen, da Gandhi, der Rebell von Angesicht zu Angesicht, von gleich zu gleich mit dem Repräsentanten des Herrschers sprach, können wir sicher sein, dass die Unabhängigkeit Indiens schon in der Geschichte eingeschrieben war, auch wenn sie erst einige Jahre später Wirklichkeit werden sollte.
In einem politischen Konflikt muss man also eine Strategie entwickeln, um seine Lösung auszuhandeln. Ich möchte zeigen, wie es im Inneren einer politischen Gesellschaft der Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit zukommt, an der Erschaffung von Demokratie mitzuwirken. Im Gegensatz zu dem, was Max Weber sagte, ist die Gewalt nicht notwendiger Weise Teil der politischen Aktion. Das, was diese charakterisiert, ist das Ziel, die Gesellschaft vom Einfluss und der Dominanz der Gewalt zu befreien. Deshalb ist es wichtig, auf Mittel zurückzugreifen, die mit diesem Ziel konform sind, das heißt gewaltfreie/ gewaltlose Mittel. Das politische Engagement besteht in der gemeinsamen Äußerung, der gemeinsamen Handlung von Menschen. Wir erschaffen einen politischen Ort, wenn wir entscheiden, gemeinsam zu sprechen, zu agieren und gemeinsam dieselben sozialen und politischen Institutionen zu errichten, uns dieselbe Verfassung und dieselben Gesetze zu geben. Gegenteilig zu dem Gedanken, der behauptet, Gewalt in der Politik sei unumgänglich, würde ich sagen, dass Gewalt im Gegenteil das Versagen der Politik darstellt. Es besteht ein natürlicher Zusammenhang zwischen Politik und Gewaltfreiheit/ Gewaltlosigkeit.
Aber wir wissen sehr gut, dass es kein kollektives Leben ohne Konflikte geben kann. Deswegen lautet die zentrale Frage: „Wie lösen wir Konflikte anders als mit Gewalt?". Man hat den Bürgern die Gewalt verbieten wollen, indem man dem Staat das Monopol zu legitimer Gewalt gab. In diesem Schritt steckt eine gewisse Logik, aber es ist noch immer die Logik der Gewalt. Es wird Zeit, dass wir Bilanz aus der Geschichte ziehen und einsehen, dass die Staaten, gestärkt vom Monopol der Gewalt, das ihnen von den Bürgern zugedacht wurde, sich letztlich der Gewalt nicht bedient haben, um die Bürger zu schützen, sondern um sich vor den Bürgern zu schützen. Es ist nicht selten, dass unsere neoliberalen Demokratien, die Körperschaften der Polizei und der Armee sich das Recht anmaßen, auf Gewalt zurückzugreifen, die nicht unbedingt notwendig ist, um eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten und die v.a. nicht die Freiheit der Bürger garantiert, sondern sie im Gegenteil beschneidet.
Nocheinmal, wir negieren nicht den Konflikt und erkennen die Notwendigkeit von sozialen Institutionen, von Polizei und Gerichtswesen an, um zu versuchen, Konflikte zu lösen. Versuchen wir, den Methoden gewaltfreier Konfliktlösung in den Institutionen selbst einen Platz zu geben. Sagen wir nicht, es sei unmöglich, solange wir es nicht versucht haben. Eine der Methoden, beispielsweise, die oft ausprobiert wurde, ist die Mediation. Wenn zwei Parteien im Konflikt stehen, kann die Intervention eines Dritten es möglich machen, die Gewalt zu beenden oder zu vermeiden und eine Basis der Verständigung zu finden. Es handelt sich dabei darum, die beiden Gegner zu trennen, damit sie sich nicht länger schlagen, dann sie wieder zusammenzubringen, damit sie wieder kommunizieren können. Es geht darum, einen Zwischenraum zu schaffen, der zu einem Raum wird, wo jeder Konfliktpartner wieder lernt, seine eigene Wahrnehmung des Konfliktes in Worte zu fassen. Und so sind es die Protagonisten des Konfliktes selbst, die eine Kompromisslösung finden.
Ich werde nicht behaupten, dass alles einfach ist und dass es möglich ist, alle Konflikte gewaltlos/ gewaltfrei zu lösen wie mit einem Zauberstab. Im Gegenteil, ich erkenne an, dass die Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit schwierig zu realisieren ist. Wir sind uns in folgendem einig: Wenn Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit möglich ist, dann ist sie vorzuziehen. Und wenn Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit vorzuziehen ist, dann ist es an uns, sie möglich zu machen. Und das ohne Zeit zu verlieren. Denn wenn wir nicht von heute an alle Mühe aufbringen, um Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit möglich zu machen, also morgen, übermorgen, in einem Monat, in einem Jahr, in zwanzig Jahren, in drei Jahrhunderten, dann werden wir fortfahren zu sagen, dass sie unmöglich und dass Gewalt notwendig sei.
Wir müssen also heute mit der gleichen Intelligenz in die Kultur der Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit investieren, wie wir gestern in die Kultur der Gewalt investiert haben. Dieser Einsatz muss auf allen Ebenen der Gesellschaft geleistet werden. Natürlich stellt Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit eine gewisse Militanz dar. Aber es wäre ein großer Fehler, sie den „Militanten" zu überlassen. Sie steht allen Bürgern zur Verfügung. Man muss also die Behörden, die Institutionen ansprechen. Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit kann ihre Potenziale nur insoweit entfalten, wie die öffentlichen Institutionen selbst in die Erprobung der Möglichkeiten der Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit investiert haben.
Es gibt keine fertigen Antworten, keine Rezepte. Aber ich bin davon überzeugt, dass, wenn wir uns die Möglichkeiten der Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit vorstellen können, dann können wir sie auch leben. Wenn uns Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit nicht auf Anhieb die richtigen Antworten liefert, so kommt ihr zumindest der enorme Verdienst zu, uns auf Anhieb die richtigen Fragen zu liefern. Und wie Rilke sagte: „Indem wir gemeinsam zu den richtigen Fragen kommen, werden wir letztendlich gemeinsam die wahren Antworten finden."
Die beste Definition für Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit habe ich in den 90 Bänden des Gesamtwerkes von Gandhi gefunden - aber ich muss zugeben, dass ich noch nicht alle gelesen habe und in einem anderen Leben werde ich vielleicht noch eine bessere Definition finden - das ist jene: „Die vollkommenste Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit ist die totale Abwesenheit von Feindseligkeit gegenüber allem, was lebt. In seiner aktiven Form drückt sich Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit im Wohlwollen gegenüber allem, was lebt, aus." Das ist bemerkenswert, dass Gandhi zuerst eine negative Bedeutung von Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit gibt: die Abwesenheit von Feindseligkeit. Das lässt vermuten, dass unser erster Reflex, unsere erste Reaktion gegenüber dem Anderen von Feindseligkeit geprägt ist. Es ist auch wichtig zu unterstreichen, dass Gandhi nicht von Abwesenheit von Feindseligkeit gegenüber allen menschlichen Wesen, sondern gegenüber allen lebenden Wesen, d.h. auch gegenüber den Tieren spricht. Ich habe nicht Zeit genug, eine philosophische Reflexion über die Beziehung zwischen Tier und Mensch zu entwickeln, aber ich glaube, es handelt sich dabei um eine wichtige Frage, die unsere industrialisierten Gesellschaften noch nicht gelöst haben. Ich glaube sogar, dass sie sie noch nicht einmal gestellt haben. Dennoch ist es sicherlich nicht Teil der Bestimmung des Menschen, das grausamste Raubtier der Erde zu sein. Jenseits aller Gefühlsduselei ist es wichtig, den Respekt gegenüber dem Tier als eine Forderung der Menschlichkeit zu betonen. Mir ist bewusst, dass diese Behauptung eine wahre kulturelle Revolution impliziert. Gewisse Tiere mögen vielleicht keine denkenden Wesen sein, aber sie sind ganz bestimmt leidende Wesen. Gandhi sagte, dass der Respekt vor der Kuh den Respekt gegenüber allen stummen Wesen symbolisiert. Seien wir intelligent genug, den Respekt, den die Hindus gegenüber Kühen manifestieren, nicht einfach dumm zu ironisieren.
Es ist Gandhi, der dem Okzident das Wort der Gewaltlosigkeit/ Gewaltfreiheit beschert hat, indem er ins Englische den Sanskrit-Begriff ahimsa, der in den Texten der hinduistischen, jainistischen und buddhistischen Literatur zu finden ist, übertragen hat. Er ist zusammengesetzt aus dem negativen Präfix a und dem Substantiv himsa, welches soviel bedeutet wie der Wunsch danach, dem anderen zu schaden, einem anderen Gewalt anzutun. Ahimsa stellt also die Anerkennung, die Zähmung, die Beherrschung und die Umwandlung des Verlangens nach Gewalt, die im Menschen ist und die ihn dazu bringt, einen andern Menschen zurückweisen, ausschließen, ermorden zu wollen. Quelle:
Texte zur Tagung PAZIFISMUS HEUTE -
Gewaltlosigkeit angesichts von Krisen und Kriegen 15. - 17.10.2004 Magdeburg