Gewaltfrei aber nicht machtlos
Theodor Ebert: Gewaltfrei, aber nicht machtlos. Erfahrungen mit gewaltfreien Aktionen in der Bundesrepublik
Vortrag zum 20-jährigen Bestehen der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden in Karlsruhe am 2. Oktober 2004
Die gewaltfreie Aktion als soziale Erfindung
Der Mensch kann - ähnlich wie das Tier - aus Erfahrungen lernen. Das Besondere an unserer menschlichen Erfahrung ist, dass wir diese in Worte fassen und in Erzählungen und Theorien unseren Mitmenschen und sogar der Nachwelt mitteilen können. Dabei kann es vorkommen, dass herkömmliche Theorien die Verarbeitung von ganz neuen Erfahrungen erschweren oder sogar verhindern, weil sie das Neue in alte Denkstrukturen einordnen. In der Bibel heißt es, man solle neuen Wein nicht in alte Schläuche füllen.
Was neuer Wein ist, wusste man in Israel zu Jesu Zeiten genau. Neue Erfahrungen sind manchmal schwieriger zu identifizieren, weil ein anderes Diktum sagt, dass es unter der Sonne kaum etwas Neues gibt, vielmehr alles menschliche Verhalten in der einen oder anderen Form bereits vorgekommen ist.
Meines Erachtens ist die gewaltfreie Aktion beim makropolitischen Einsatz so etwas wie neuer Wein. Wir suchen ja auch nach neuen passenden Worten für das, was im 20. Jahrhundert auf diesem Feld der Konfliktaustragung ausgedacht und erprobt wurde. Die Worte „gewaltfrei", „ziviler Ungehorsam" und „Soziale Verteidigung" hat es im 19. Jahrhundert in der deutschen Sprache noch nicht gegeben.
Dennoch lassen sich Vorläufer dieser neuen Formen der Konfliktbearbeitung auch in früheren Zeiten entdecken. Auch in der Antike gab es bereits gewaltlosen Widerstand. Weil so vieles schon einmal da gewesen und in die tradierte Erfahrung des Menschen eingegangen ist, gilt uns ja auch die Bibel als ein solch wichtiger Schatz von Erfahrungen. Die Bibel enthält eine Fülle von Erfahrungen der Menschen mit Gott und ihren Mitmenschen. Es lohnt sich immer wieder von neuem über diese Erfahrungen nachzudenken und auf die Aussagen der Bibel über das Gott und den Menschen Mögliche zu hören.
Ein solch immer wieder aufregender und zum Nachdenken und Planen anregender Text ist die Bergpredigt im Matthäus-Evangelium, Kapitel 5 - 7. Eine der zentralen Aussagen bildet ja der Satz „Beati sunt pacifici." Selig sind die Friedensschaffenden bzw. Das Heil ist bei den Friedensstiftern.
Nun kennen Sie alle auch den Satz Bismarcks, der sinngemäß von vielen Politikern wiederholt wurde: Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren. Ich zitiere diesen Satz, weil ich ihn für fragwürdig und widerlegbar halte. Natürlich berufen sich diese Politiker immer auf vielfältige Erfahrungen mit dem Einsatz gewaltsamer Mittel, mit dem sie nach eigener Einschätzung Schlimmeres zu verhüten oder zu beseitigen trachteten. Doch könnte es nicht sein, dass sie abweichende Erfahrungen ignorieren oder falsch einordnen, indem sie neuen Wein in die alten Schläuche ihrer traditionellen Erfahrungen füllen bzw. die bösen Begleit- und Folgeerscheinungen der Gewaltanwendung ausblenden?
Die Grundthese meines Vortrages ist, dass im vergangenen 20. Jahrhundert eine soziale Erfindung von außerordentlicher Bedeutung gemacht wurde, die zwar vereinzelte Vorläufer hatte, aber in ihren Dimensionen doch etwas Neuartiges darstellt. Karl Marx hat vom Umschlag von Quantität in Qualität gesprochen. Die Zahl der Anwendung gewaltfreier Kampftechniken hat sich im 20. Jahrhundert sprunghaft vermehrt. Doch es gibt keinen automatischen Umschlag von Quantität in Qualität. Es muss Menschen geben, welche diese neue Qualität ahnen und erkennen und auf den Begriff bringen.
Doch halten wir erst einmal fest: Es gibt nicht nur naturwissenschaftliche Erfindungen, sondern auch soziale Erfindungen. Der Parlamentarismus und das demokratische Mehrparteiensystem sind zum Beispiel solche sozialen Erfindungen. Auch soziale Erfindungen können - meist im Zusammenwirken mit oder im Gegenspiel zu naturwissenschaftlichen Erfindungen - die Welt verändern. Allgemein bekannt sind eine Reihe solcher die Welt verändernder naturwissenschaftlicher Erfindungen und Entdeckungen - von der Dampfmaschine bis zum Computertechnik. Die erschreckendste Erfindung war in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Kernspaltung, weil sie die Menschen unwiderruflich in die Lage versetzte, die Schöpfung - zumindest was Adam und Eva und deren Nachfahren anbelangte - mit einer Weltuntergangsmaschinerie von atomaren Schlägen und vorprogrammierten Gegenschlägen rückgängig zu machen. Das war eine völlig neue Qualität des Krieges.
Das Betätigen einer solchen doomsday machine war im Rahmen der herkömmlichen Kriegstheorien, die in ihren zivilisierten Versionen im Krieg ein letztes Mittel, eine ultima ratio, sahen nicht mehr zu rechtfertigen. Das Verdienst, dies als erster herausgearbeitet zu haben, kommt dem Atomphysiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker zu, der es für dringend erforderlich hielt, Alternativen zur militärischen Konfliktaustragung zu erforschen und zu erproben. Er sah die machtpolitische Alternative zum Militär in erster Linie in der von Gandhi entwickelten Kampftechnik der gewaltfreien, direkten Aktion von einzelnen und - dies war das Neue - auch von großen Menschenmassen. Weizsäcker vermochte allerdings noch nicht zu sagen, welche Formen der basisdemokratischen Organisation diese gewaltfreie Kampftechnik zur höchsten Wirksamkeit bringen könnten.
Gandhis soziale Erfindung bestand im Grundsätzlichen darin, dass er zeigte: Macht kommt nicht nur aus Gewehrläufen oder Raketensilos; sie entsteht auch durch das zielbewusste Zusammenwirken von Menschen bei gewaltfreien Unterlassungs- und Eingriffshandlungen. Die Initiative zu solchen gewaltfreien Aktionen kann zwar von einzelnen oder kleinen Gruppen ausgehen, für den Erfolg kommt es aber letzten Endes darauf an, dass die Mehrheit gewonnen wird - entweder für das Mitmachen bei den gewaltfreien Aktionen oder doch für indirektere Formen der Zustimmung. Das ist mir wichtig. Die gewaltfreie Aktion ist eine Form der demokratischen Willensäußerung. Es ist eine Form der Macht von unten. Wer sich beteiligt, entscheidet frei darüber. Niemand kann zum Mitmachen bei gewaltfreien Aktionen gezwungen werden.
Die bewaffneten Gegner können diese gewaltfreien Aktionen gewaltsam zu unterdrücken suchen und sie können damit auf Zeit auch Erfolge erzielen. Doch ganz und gar lässt sich gewaltfreier Widerstand nicht unterdrücken. Dieser kann immer wieder neu aufgebaut werden, bis er schließlich zumindest einen Teil seiner ursprünglichen Zielsetzungen erreicht.
Ich charakterisiere diese soziale Erfindung so zurückhaltend, damit nicht der Eindruck entsteht, hier gehe es um eine neue Heilslehre mit der zugehörigen Aussicht auf eine neue heile Welt der gewaltfreien Zusammenlebens der Menschen und der Tiere. Es ist eher eine vorsichtige Überlebensstrategie in einer durch naturwissenschaftliche Erfindungen in ihrem Zusammenhalt, in ihrer Ökologie immer stärker bedrohten Welt.
Totalitäre Regime als Herausforderung
Diese Strategie der gewaltfreien Aktion wurde entwickelt vor dem düsteren Hintergrund der Erfindung von Massenvernichtungsmitteln. Der radikalste Versuch, die Existenz von Atomwaffen - wenn auch nur vorläufig - zu rechtfertigen, stammt von dem - ansonsten durchaus kritischen Philosophen - Karl Jaspers. Er rechtfertigte die atomare Abschreckung mit der außerordentlich bedrohlichen Existenz des Totalitarismus - Hitlerscher, Stalinscher oder sonstiger Prägung. In der Ausbreitung totalitärer Regime, wie sie George Orwell in seinem Roman „1984" einer breiten Leserschaft vor Augen führte, sah Jaspers eine globale Bedrohung. Jaspers befürchtete, dass durch die Ausbreitung totalitärer Regime die Freiheit nicht nur auf Zeit und lokal begrenzt, sondern global und für immer verloren gehen könnte. Seine Argumentation gipfelte in der Überlegung, dass es totalitären Regimen durch die Manipulation des menschlichen Denk- und Ausdrucksvermögens gelingen könnte, die Idee der Freiheit auf immer und ewig aus des Menschen Herz und Hirn zu entfernen. Vorgestellt wurde hier die globale Anwendung des Orwellschen „double think". Bei diesem „double think" erhalten traditionelle Begriffe eine neue Bedeutung. Aus dem Staatssicherheitsdienst wird das Ministerium der Liebe. Im Zuge des „double think" wird die Geschichte der Menschheit umgeschrieben und erhalten die Worten eine neue, den Herrschenden genehme Bedeutung. Das war von George Orwell genial gedacht, und ich freue mich, dass dieses spannende, provozierende Buch in deutschen Gymnasien zur Pflichtlektüre gehört. Es gibt ja auch in unserer Gesellschaft immer wieder wahre Stilblüten des „double think". Die Plutoniumfabrik in Gorleben wurde der dortigen Bevölkerung als „Entsorgungspark" zu vermitteln gesucht. Die betroffenenen Landwirte wussten sich allerdings zu wehren und fuhren mit ihren Treckern von Gorleben nach Hannover und brachten Ministerpräsident Albrecht zu der geradlinigen Einsicht, dass diese Anlage politisch nicht durchsetzbar sei.
Als ich am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zusammen mit Ossip Flechtheim und später auch ohne ihn Seminare anbot, in denen ich rückblickend Zukunftsentwürfe untersuchte, konnte ich feststellen, dass die meisten Studenten „1984" bereits gelesen hatten. Der von George Orwell umrissene Totalitarismus war eine Mischung aus Faschismus und Stalinismus. In mancher Hinsicht sind diese Feindbilder austauschbar und sie lassen sich auch durch neue ersetzen. Das neue Feindbild ist jetzt der Islamismus. Statt SS und KGB gibt es jetzt Al Quaida und Hamas, und der Prophet dieser Gegenutopie ist Samuel Huntington mit seinem „Kampf der Kulturen".
Orwells „1984" und die umfassende Kontrolle des menschlichen Lebens durch den Großen Bruder war in den 50-er und 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine sehr eingängige Horrorvision. Ich bin ihr als junger Mensch nicht dadurch begegnet, dass ich die Gefahren des Totalitarismus verharmlost hätte. Ich habe sie als Historiker und Politologe studiert. Darstellungen dieser Herrschaftssysteme füllen in meiner privaten Bibliothek Regale. Es gab in den 60er Jahre in der Friedensbewegung Leute, die mir wegen meiner dezidierten Kritik am Stalinismus und wegen meiner Antipathie gegenüber dem System in der DDR gelegentlich Antikommunismus vorwarfen. Dabei gehörten meine Sympathien dem demokratischen Sozialismus in der Kombination mit gemäßigten Formen des kapitalistischen, gewinnorientierten Wettbewerbs. Für viele Kritiker war irritierend, dass ich bei meiner deutlichen Kritik an kommunistisch orientierten Diktaturen dennoch die militärische Abschreckung kategorisch ablehnte und nach einer gewaltfreien Alternative suchte.
Gewaltfreier Widerstand trotz totalitärer Kontrolle?
Die individuelle Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bot nach meiner Einschätzung keine Lösung des Problems, zumal die Bundeswehr immer wieder behauptete, sie würde auch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung schützen. Wenn man die Vorstellung von Karls Jaspers teilte, dass ohne militärischen Schutz die Idee der Freiheit - und damit auch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung - endgültig verloren gehen könnte, war diese Argumentation der Jugendoffiziere der Bundeswehr gar nicht so unlogisch.
Da war es mir schon sehr wichtig, mit Kriegsdienstverweigerern in der DDR in Verbindung zu stehen, weil deren Existenz unter anderem auch zeigte, dass es in diesem angeblich totalitären System uns ähnliche Menschen gab, die sich nicht gleich schalten ließen und als so genannte „Bausoldaten" einen gangbaren Weg zwischen Widerstand und Kompromiss suchten und auf eine originelle Weise auch fanden. Diese uniformierten Bausoldaten mit ihren Spaten auf den Achselstücken sahen äußerlich aus wie Soldaten, aber durch ihre Weigerung, sich an Waffen ausbilden zu lassen, bedeuteten sie in der DDR doch eine Herausforderung für das rein militärische Denken. Sie waren in Verbindung mit den christlichen Gemeinden, aus denen sie häufig stammten und die in der Regel zu ihnen standen, die Keimzelle des gewaltfreien Aufstands, der dann 1989 zum unblutigen Ende des diktatorischen Experiments des „real existierenden Sozialismus" führte.
Auf einen solchen gewaltfreien Aufstand hatte ich nach dem Bau der Mauer in Berlin gehofft, aber die Vorstellungen vom Verlauf gewaltfreier Aufstände waren zu Beginn der 60er Jahre in Deutschland sehr unterentwickelt. Die Erfahrungen Gandhis in Südafrika und Indien und Martin Luther Kings in den USA ließen sich nicht ohne weiteres auf europäische Verhältnisse übertragen.
Meine Frage als junger Sozialwissenschaftler war zunächst einmal - und ich war ja als Kind, 1937 in Stuttgart geboren, noch im Kriegsfaschismus aufgewachsen: Ist die von George Orwell konzipierte totalitäre Kontrolle, ist eine solch monolithische Staatsbildung überhaupt möglich oder handelt es sich hier - trotz aller grausamen Realitäten - im Gesamtentwurf doch um eine Fiktion, die sich bei näherer Untersuchung als unwirklich erweist?
Sie erwarten jetzt wahrscheinlich, dass ich an dieser Stelle bereits über den gewaltfreien Widerstand gegen Diktaturen spreche, weil dieser später zu meinem Spezialgebiet als Friedens- und Konfliktforscher wurde. Doch ich sehe im Nachdenken über Widerstandsformen erst die Konsequenz einer viel grundlegenderen Erkenntnis: Die Vorstellung von George Orwell und Karls Jaspers, dass die Menschen sich total kontrollieren und sich in ihrem Denken gleichschalten lassen, indem man sie einerseits durch Propaganda begeistert und andererseits durch Terror einschüchtert und dann ihre Sprache kontrolliert, die Bedeutung der Worte ändert und die Geschichte im Sinne der offiziellen Ideologie umschreibt und die Dichter und die bildenden Künstler auf Linie bringt, ist alles in allem - Gott sei Dank - unrealistisch. Ich will den Faschismus und den Stalinismus nicht verharmlosen. Es sind diesen Regimen Millionen Menschen zum Opfer gefallen, in Nichtkriegs- und noch mehr in Kriegszeiten. Doch es hat die totalitäre Kontrolle aller Individuen trotz gewaltiger Anstrengungen der diktatorischen Regime nie gegeben.
Gerade wir Deutschen können auf der Basis unserer Erfahrungen mit dem Faschismus und dem SED-Regime zur Aufklärung des realen Lebens unter Diktaturen einiges beitragen. Und ganz persönlich gesprochen - und unser christlicher Glaube ist ja eine personale Religion, die einen persönlichen Gott und ein mit ihm direkt verbundenes Individuum vorsieht: Ich kann mir nur sehr schwer, eigentlich gar nicht vorstellen, dass aus mir im Falle eines Hitlerschen Endsiegs jemals ein überzeugter Faschist geworden wäre. Ich kenne und bewundere Ionescus Drama „Die Nashörner", das im Gleichnis die Verwandlung des Menschen in ein Nashorn zeigt, doch im Gegensatz zur Moral von Ionescus Geschichte stelle ich mir vor, dass ohne den militärischen Sieg der Alliierten auf meine Generation die Aufgabe zugekommen wäre, eine faschistisches Drittes Reich von innen heraus zu befreien und ich halte es auch für möglich, dass meine Generation dies geschafft hätten. Vielleicht würde ich heute nicht mehr leben, aber ich lasse mir nicht einreden, dass es keine Alternative zum militärischen Sieg über den Faschismus gegeben hätte. Dieser militärische Sieg wurde mit riesigen Verlusten erkauft. Man spricht von 60 Millionen Toten. Gandhi hat bereits 1940 davor gewarnt, dass die Gefahr bestünde, dass Hitler letzten Endes von den Alliierten „überhitlert" würde. Ein solches Urteil will ich über die alliierte Kriegführung nicht pauschal aussprechen, aber der Bombenkrieg gegen deutsche Städte und schließlich der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zeigen eben doch, dass die Gefahr, zum Nashorn zu werden, nicht auf die Menschen beschränkt ist, die in einem faschistischen System leben.
Gewaltfreier Widerstand gegen tendenziell totalitäre Diktaturen ist viel schwieriger als gewaltfreier ziviler Ungehorsam in einer einigermaßen funktionierenden parlamentarischen Demokratie, die nun seit über 50 Jahren in der Bundesrepublik unser Arbeitsfeld darstellt. Natürlich kann man Menschen zu manipulieren suchen und man kann damit auch gewisse Erfolge erzielen. Doch auch in Diktaturen wird diese Kontrolle und Manipulation nie vollständig gelingen. Der Mensch ist ein sprachschöpferisches, kreatives Wesen. Das ahnen die Diktatoren auch. Darum versuchen sie es immer wieder mit Bücherverbrennungen und mit Kontrollen der Schriftsteller und mit der Beeinflussen der Jugend von Kindesbeinen an. Die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten waren ein Langzeitexperiment auf diesem Gebiet, und China und Kuba sind es noch. Es funktioniert nicht. Das Denken des Menschen lässt sich nicht perfekt kontrollieren und manipulieren.
Der innere Widerspruch: Die Lernunfähigkeit totalitärer Systeme
Die Herrschenden können unendlich viele Informationen über das Denken - auch über potentiell widerständiges Denken - sammeln und einen gewaltigen Repressionsapparat aufbauen. Wenn sie dann aber diese gesammelten Informationen auswerten und ihren Repressionsapparat steuern wollen, können sie dies nur mit Hilfe von kritischen Begriffen und einer einigermaßen realistischen Analyse. Informationen als bloße Daten, auch in Form von riesigen Mengen von Stasi-Berichten, sind als Herrschaftsinstrument wertlos. Man muss sie auf einen realistischen, also der Wirklichkeit entsprechenden Begriff bringen. Diese Fähigkeit zu einer realistischen Einschätzung der Lage ist den Regierenden in der DDR mehr und mehr verloren gegangen. Der Große Bruder muss um sich herum kritisch denkende Menschen haben, sonst ist er nach einiger Zeit so doof wie Erich Honecker und Erich Mielke. Das heißt: Es gibt keine totalitäre Kontrolle oder anders formuliert: idealtypische totalitäre Systeme sind nicht lernfähig und damit instabil. Die Vorstellung von Orwell und Jaspers, dass die Idee der Freiheit aufgrund totalitärer Kontrolle verloren gehen könnte, ist falsch. Das heißt, die Zeit und der kreative menschliche Geist - man kann dies auch als den göttlichen Funken im Menschen bezeichnen - arbeiten gegen diktatorische Herrschaft.
Wenn man dies begriffen hat, dann weiß man, dass die vollständige, einseitige Abrüstung ein überschaubares Risiko darstellt. Das Risiko ist nicht unbeträchtlich und darum lohnt es sich, den gewaltfreien Widerstand gegen Diktaturen einzuüben, aber das Risiko ist geringer als das Risiko, das mit der Vorbereitung auf die militärische Auseinandersetzung verbunden ist, insbesondere wenn in diese auch atomare Mittel einbezogen werden könnten.
Nach diesem theoretischen Vorlauf, der mir aber doch wichtig zu sein scheint für die Einordnung der gewaltfreien Aktion als sozialer Erfindung, bin ich nun beim Thema meines Vortrags. Auf diese Einordnung kommt es an, damit nicht der Eindruck entsteht, die gewaltfreie Aktion sei gewissermaßen das Instrumentarium des zivilcouragierten Bürgers im demokratischen Alltag, wohingegen für die schwierigen Aufgaben nach wie vor die Polizei und das Militär zuständig seien - ob nun in nationaler Verantwortung oder im Auftrag der Vereinten Nationen.
Der Anspruch, der mit der Einübung gewaltfreien Handelns verbunden wird, war auch bei Gandhi und Martin Luther King weiter gehend. Es ging um mehr als ein bisschen Zivilcourage. Gandhi wollte nach der Ablösung der englischen Kolonialherrschaft ein Indien ohne Militär und ohne schwer bewaffnete Polizei. Ein Netzwerk von gewaltfreien Einsatzgruppen - genannt Shanti Sena, d.h. wörtlich Friedensarmee - sollte Indien überziehen und sich vor allem der Verfolgung religiöser Minderheiten widersetzen, aber auch eventuellen Putschisten oder Invasoren Widerstand leisten. Dieser weitergehende Anspruch machte auch ein Gutteil der Faszination Gandhis für uns Europäer aus.
Es hat auch gewaltlosen Widerstand gegen faschistische und kommunistische Diktaturen gegeben. Dieser Widerstand wurde auch erforscht. Ich war daran beteiligt. Wir verbanden mit unseren Untersuchungen die Erwartung, dass sich aus der spontanen Praxis zum Beispiel in Norwegen in den Jahren 1942 bis 1945 Regeln für den vorbereiteten Widerstand ableiten und ein eigenständiges gewaltfreies Verteidigungskonzept entwickeln ließen. Die Frage nach dem Möglichkeiten der so genannten Sozialen Verteidigung hat uns Friedensforscher in den 60er, 70er und 80er Jahren umgetrieben. Ich erwähne diese Forschungsgeschichte, weil sie deutlich macht, dass am Anfang der Forschung nicht das stand, was heute ein Gutteil der Ausbildung für gewaltfreies Handeln - auch in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden - ausmacht, nämlich die Anleitung zum Handeln in Nachbarschaftskonflikten, in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen. Am Anfang stand die Suche nach der umfassenden Alternative zum massiven Polizeieinsatz und zum Militär.
Wir Forscher haben jedoch bei der Entwicklung unserer Alternativkonzepte eine überraschende Erfahrung gemacht. Wir hatten gedacht, dass unser Entdecken von Fällen, in denen gewaltloser Widerstand gegen Diktaturen erfolgreich war oder doch Respekt gebietend eingesetzt werden konnte, die Phantasie der Bürger anregen, ja beflügeln und sie für unser Alternativkonzept der Sozialen Verteidigung gewinnen würde. Dies war jedoch nicht der Fall. Unser Alternativkonzept lag auf dem Tisch, es wurde in Buchform publiziert, aber es wurde weitgehend ignoriert - und dies trotz des überraschenden und eindrucksvollen unbewaffneten Widerstands in der Tschechoslowakei im Sommer und Herbst 1968.
Vom Überwinden mentaler Blockaden durch Alltagserfahrungen
Meine Erklärung für dieses Verhalten der Mehrheit der Deutschen ist heute, dass sie sich in ihrer Phantasie überhaupt nicht an die Vorstellung herantrauten, dass Deutschland und andere Staaten einseitig abrüsten und sich gewaltfrei verteidigen könnten. Sie hatten keine oder nur wenig praktische Erfahrung mit dem gewaltfreien Widerstand. Sie trauten sich die Soziale Verteidigung nicht zu. Sie mussten erst mal im Alltag, im Nahbereich positive Erfahrungen mit der Kampfkraft der gewaltfreien Aktion machen.
Eine größere öffentliche Akzeptanz fand die Soziale Verteidigung erst nachdem in den 70er Jahren und zu Beginn der 80er Jahre viele tausend Bürger in der Ökologie- und Friedensbewegung sich an gewaltfreien, direkten Aktionen beteiligt hatten. Sie mussten das gewaltfreie Handeln vor ihrer Haustür praktiziert haben, um sich in ihrer Phantasie auch auf die viel weitergehenden alternativen, gewaltfreien Verteidigungskonzepte einzulassen. Das Bewährungsfeld für die gewaltfreie Aktion war die Anti-AKW-Bewegung. Die Parole „Atomkraft - nein danke!" schuf die psychischen Voraussetzungen für eine positive Resonanz auf das Alternativkonzept „Soziale Verteidigung".
Wie hätte auch eine Bewegung, welche die nichtmilitärische Nutzung der Atomenergie ablehnte, dann in der Sicherheitspolitik ausgerechnet die atomare Abschreckung befürworten können? So führte der Weg vom Widerstand gegen Atomkraftwerke zum Befürworten der Sozialen Verteidigung. Diese tauchte Anfang der 80er Jahre als sicherheitspolitisches Konzept im Parteiprogramm der Grünen auf, die sich in einer Grundsatzerklärung auch auf gewaltfreie Mittel für ihre neue Art, Politik zu machen, festgelegt hatten. (Ich will hier nicht über die Grünen sprechen. Es würde eine lange Geschichte der Fehler und Versäumnisse. Das Ausschlaggebende ist aus meiner Sicht, dass diese Partei in ihrer Mehrheit nicht erkannte, welche konstruktive Aufgabe sie mittel- und langfristig schultert, wenn sie ihren Wählern verspricht, Politik mit gewaltfreien Mitteln machen zu wollen. Joschka und Compagnie haben nicht begriffen, welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, dass Politik mit gewaltfreien Mitteln gelingen kann. Als auf Betreiben von Petra Kelly und Roland Vogt die Bundestagsfraktion der Grünen 1984 ein international besetztes Hearing zur Sozialen Verteidigung veranstalteten, nahm kaum einer der Bundestagsabgeordneten teil und es dauerte vier Jahre, bis eine Dokumentation dieses Hearings - kurz vor der Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung - erscheinen konnte und sie wurde nicht von Mitarbeitern der Bundestagsfraktion sondern von Friedensforscherinnen - und ich nenne hier vor allem Dr. Barbara Müller - erstellt. Wenn man so mit seinem eigenen sicherheitspolitischen Programm umgeht, dann darf es einen nicht wundern, dass man nach einem Jahrzehnt der Versäumnise mit leeren Händen dasteht und dann, wenn es zum Schwure kommt, sich an einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligt und sich von der albanischen UCK nasführen lässt. Das sage ich nur in Klammer, weil einige Graswurzelpolitiker meinen könnten, dass diese Entwicklung der Grünen zwangsläufig gewesen wäre. Es hätte auch anders kommen können. Es gibt nachweisbare Fehler und Versäumnisse. Doch diese sind hier nicht mein Thema.)
Es gab einige Politiker, die sich bei den Grünen für die Soziale Verteidigung einsetzten und mit denen ich eng zusammenarbeitete: Roland Vogt und Petra Kelly, Dr. Alfred Mechtersheimer und Winfried Nachtwei. Es kam im März 1989 zur Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung. Das war eine Dachorganisation deutscher pazifistischer Verbände. Sie setzte sich für gewaltfreien Widerstand als Mittel der Verteidigung ein und bereitete sich vor allem auf den Moment vor, in dem es auf Bundesebene zu einer rot-grünen Koalition kommen würde. Dann sollten die pazifistischen Kräfte so stark sein, dass sie zumindest den Einstieg in den Aufbau der Sozialen Verteidigung durchsetzen könnten.
Meilensteine der Entwicklung
Das Unterfutter dieser weitgehenden Pläne waren die vielfältigen Erfahrungen mit gewaltfreien Aktionen in den sozialen Bewegungen der Bundesrepublik. An dieser Stelle wäre es jetzt eigentlich angebracht, über diese Erfahrungen zu sprechen. Ich will diese jetzt aber nicht auflisten, sondern versuchen, den Lernprozess, der sich im Laufe von 50 Jahren in der Bundesrepublik vollzogen hat, zu strukturieren.
Meilensteine der Entwicklung waren die Ostermärsche und der Aufstand der deutschen Intellektuellen gegen Adenauers und Straußens Versuch, den „Spiegel" durch den Vorwurf des Landesverrats mundtot zu machen.
Die Kerntruppe der Ostermärsche bildeten die Kriegsdienstverweigerer. Das Neuartige an den Ostermärschen war, dass sie parteiunabhängig, aus der Basis eigener Kraft organisiert wurden. Die vorangehende „Kampf dem Atomtod-Kampagne", die ähnlich argumentiert hatte wie die Ostermarschierer, war noch weitgehend vom Parteiapparat der SPD gesteuert und gestützt gewesen. Als die SPD diese Unterstützung abzog, lag die Kampf-dem-Atomtod-Kampagne am Boden und musste ihre Aktivitäten einstellen.
Die Ostermärsche waren eine erste bundesweite Protestorganisation, die sich selbständig von unten nach oben organisierte und sich trotz des Gegenwinds aus der SPD zu behaupten wusste. Die regionalen Ausschüsse waren in der Lage, dezentral ihre Märsche zu organisieren, und es war möglich, im Konsensverfahren - ohne die parteiüblichen Kampfabstimmungen - ein tragfähiges Programm zu entwickeln und dann innerhalb der Organisation auch durchzusetzen. Letzteres war eine Überlebensbedingung, weil die Presse spitz darauf war, auf den Ostermärschen Parolen zu entdecken und zu photographieren, welche die These von der östlichen Fernsteuerung dieser Märsche bestätigt hätten. Um dieser Diffamierung vorzubeugen, durften auf den Ostermärschen nur die vom Zentralen Ausschuss ausgegebenen Parolen gezeigt werden. Die Ostermärsche boten von Hamburg bis Stuttgart ein einheitlich schwarz-gelbes Bild. Das war eine politische Leistung, um die Konrad Tempel, Andreas Buro und Klaus Vack hart kämpfen mussten. Ich habe Anfang der 60er Jahre im Stuttgarter Verband der Kriegsdienstverweigerer und im Regionalen Ausschuss des Ostermarsches meine politischen Lehrjahre absolviert. Wenn der Stasi-Forscher Hubertus Knabe jetzt behauptet, die westdeutsche Friedensbewegung sei von DDR-Agenten gesteuert worden, dann kann ich ihm nur Verständnislosigkeit bescheinigen. Wir kannten unsere Pappenheimer von der Untergrund-KPD und der DFU recht gut. Das waren in der Regel nicht verdeckt operierende Agenten, sonder bekennende Kommunisten. Wenn wir mit ihnen sprachen, merkten wir sehr schnell, wo sie politisch standen und dann strengten wir uns an, damit sie nicht dank ihres Engagements allzu viel Einfluss bekamen. Das war ein dauernder Kampf um Einfluss in der Friedensbewegung, aber wir wussten immer woran wir waren und mit wem wir es zu tun hatten, nur dass wir das, was wir wussten, nicht an die große Glocke gehängt und mit dem Verfassungsschutz nicht zusammengearbeitet haben. Diese Strategie halte ich auch heute noch für richtig. Als ich in Stuttgart in den Verband der Kriegsdienstverweigerer eintrat, hatten Mitglieder der verbotenen KPD im Stuttgarter Vorstand eine Mehrheit. Ich war ziemlich geschockt. Doch dann haben wir intern mobilisiert und bei den nächsten Wahlen unsere Leute in den Vorstand gewählt. Es gab auch unter diesen Kommunisten vernünftige Leute, mit denen man Absprachen treffen konnte. Sehr positiv ist mir Willi Hoss in Erinnerung. Er ist dann später ein sehr selbständig denkender Grüner geworden, der wegen der Beteiligung der Grünen an Kriegen die Partei auch wieder verlassen hat. Mir war es wichtig, in der Friedensbewegung diese ganz unterschiedlichen Formen des friedenspolitischen Engagements und die auch sehr unterschiedlichen persönlichen Zugänge kennen zu lernen. In puncto Stalinismus hatte ich zwar eine deutliche Position, aber das schloss nicht aus, dass ich Sympathie für sozialistische Positionen und entsprechende Lebensläufe empfand. Auch Ossip Flechtheim, der mich 1966 an die Freie Universität holte, war in seiner Jugend Kommunist gewesen.
Doch ich greife vor. Wir befinden uns noch Anfang der 60er Jahre. Damals war man, was den kommunistischen Einfluss anbelangte, auch in den anderen Ortsgruppen des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer auf dem Qui vive. Bei der Internationale der Kriegsdienstgegener war dies nicht überall der Fall. Da bildeten die Süddeutschen dank Sonnhild und Uli Thiel eine bemerkenswerte Ausnahme. Doch ich wage die These: Hubertus Knabe unterschätzt die politische Intelligenz der führenden Vertreter der westdeutschen Friedensbewegung bei weitem. Die Friedensbewegung der Bundesrepublik war nicht ferngesteuert. Die unabhängigen peaceniks hatten nur ihre eigene Art mit den Kommunisten umzugehen.
Doch nun von den Ostermärschen zur „Spiegel-Affaire". Die von ihr ausgelösten Straßenproteste waren für die politische Szene Deutschlands wichtig, weil hier zum ersten Mal gewaltfreie, direkte Aktionen der parlamentarischen Opposition signalisierten, dass erhebliche Teile des Volkes ganz anderer Meinung waren als die Regierung. Diese kritische Intelligenz ließ es sich nicht gefallen, dass die markanteste Stimme der publizistischen Kritik in Deutschland verstummen sollte. Das Volk wartete nicht mehr darauf, was seine Repräsentanten im Parlament zu dem Vorwurf des Landesverrates sagen würden. Zuerst waren die Spiegel-Leser auf der Straße und dann erst meldete sich die parlamentarische Opposition zu Wort und zwang schließlich Verteidigungsminister Strauß zum Rücktritt.
Stadtguerilla oder gewaltfreier Aufstand?
In der Spiegel-Krise wurden Aktionsformen erprobt, die fünf Jahre später mit den Protesten der APO das politische Klima in der Bundesrepublik verändern sollten. Nach meiner Erinnerung war das Problem bei den Protesten der APO - und ich war in Berlin direkt beteiligt als Initiator eines Arbeitskreises für gewaltfreie, direkte Aktionen an der so genannten „Kritischen Universität" - , dass sie zwar weitgehend gewaltlos waren, aber im Rahmen einer globalen Befürwortung von revolutionären Befreiungskriegen stattfanden. Die Helden der APO waren Che Guevara und Ho-tschi-Minh und nicht Gandhi und Martin Luther King. Es gab zwar eine weit verbreitete antiautoritäre Grundhaltung, aber diese konnte bei einigen auch in ein gewalttätig-autoritäres Verhaltensmuster umschlagen. Die kommunistischen Aufbauorganisationen waren traditionelle Kaderparteien und die Rote Armee Fraktion war ein blödsinniger Versuch, den Guerillakampf in die deutschen Städte zu tragen. Doch die Theorie des gewaltfreien Handelns war nicht weit genug verbreitet, um diesen aussichtslosen Experimenten sofort und entschieden entgegenzuwirken. Wer es versuchte, wurde bisweilen heftig angefeindet.
Zur gültigen Protesttheorie wurde die gewaltfreie Aktion nicht im Zuge der APO. Die APO richtete sich an den Universitäten durch überzogene und wenig konstruktive Aktionen, bei denen auch ehrenwerte Vertreter der demokratischen Kultur verunglimpft wurden, selbst zugrunde. Man sollte darüber aber nicht vergessen, dass im Zuge der APO die deutsche Universität in erstaunlichem Umfang demokratisiert und der Lehrkörper entsprechend erweitert wurde. An den Berliner Universitäten bedeutete dies eine nachhaltige Veränderung.
Doch man darf sich dies nicht als einen bravourösen Siegeszug der Theorie und Praxis der basisdemokratischen gewaltfreien Aktion vorstellen. Ich erhielt zwar 1970 einen Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung, aber die Sozialistische Assistentenzelle hatte bei meinem Habilitationsverfahren, dem Forschungen zur gewaltfreien Aktion zugrunde lagen, gegen mich gestimmt. Glücklicherweise hatte sie keine Mehrheit und meine Kollegin Renate Damus widersetzte sich dem sozialistischen Zellendruck, enthielt sich der Stimme und gratulierte mir zur Habilitation. Das war fast schon ein Akt konterrevolutionären Ungehorsams, an den ich mich mit Rührung zurückdenke, zumal die junge Kollegin einige Jahre später einem schweren Leiden erlag.
Die gewaltfreie Aktion als maßgebliche Protestform setzte sich erst Anfang der 70er Jahre im Zuge der Bürgerinititativ-Bewegung durch. Mein Münchener Kollege Cornelius Mayr-Tasch hat deren Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen sehr eindrücklich und treffend geschildert. Aus den APO-Studenten waren inzwischen Väter und Mütter geworden und diese suchten nach familienfreundlichen Protestformen und fanden diese eben nur in der gewalfreien Aktion. Wie Ulrike Meinhof und Horst Mahler die Kinder zu verlassen, kam für diese jungen Eltern, die sich zunächst für Kinderspielplätze und nicht-autoritäre Erziehungsformen und dann bald auch schon gegen großindustrielle, die Umwelt bedrohende Großprojekte einsetzen, nicht in Frage. Wolfgang Sternstein konnte im Aktionskatalog des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz die gewaltfreie Aktion als die grundlegende Form des Protestes und der konstruktiven Aktion etablieren.
Dieser Trend wurde noch verstärkt durch das offensichtliche Scheitern aller gewaltsamen Bewegungen, egal ob diese nun spontihaft Anschläge verübten à la Bommi Baumann oder auch eine Untergrundarmee aufzubauen suchten.
Ziviler Ungehorsam angesichts von Atomraketen
Beim Widerstand gegen Atomkraftwerke und die Stationierung neuer Atomraketen wurde deutlich, dass die gewaltfreie Aktion sich als Protestform in der Bundesrepublik durchgesetzt hatte und dass eine politisch relevante Zahl von Bürgern mit diesem Instrumentarium mittlerweile umzugehen wusste. Der Lernprozess war mühsam. Die gewaltfreien Sitzproteste wurden von deutschen Gerichten jahrelang als gewaltsame Nötigung behandelt und bestraft, obwohl das Strafmaß auch immer wieder erkennen ließ, dass der zivile Charakter dieser Protestform bereits als Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik respektiert wurde. Und letzten Endes hat dann das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es sich bei gewaltfreien Sitzprotesten nicht um gewaltsame Nötigung, sondern um eine Ordnungswidrigkeit handelt. Im Rahmen der deutschen Justizgeschichte ist dies ein bemerkenswerter Vorgang, und ich bin stolz darauf, dass ich mit einem Gutachten daran beteiligt war.
Dieser Erfolg wäre nicht zu erzielen gewesen, wenn die Sozialen Bewegungen es nicht gelernt hätten, Aktionen, die als gewaltfrei geplant waren, auch tatsächlich gewaltfrei zu halten. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Das musste ich auch erst lernen. Als ich in den Jahren 1964/65 meine Dissertation „Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg" schrieb, ging ich in meinem Modell einer gewaltfreien Kampagne mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, dass die gewaltfreien Akteure sich in ihrer Strategie weitgehend einig sind und dass es in den eigenen Reihen keine relevante Zahl unsicherer Kantonisten gibt.
Tatsächlich ist es außerordentlich schwierig, diese gewaltfreie Aktionseinheit zu erzielen. Das hatten wir Friedensforscher aus der Ferne nicht genügend erkannt, weil wir zu sehr auf die großen Führer Gandhi und Martin Luther King schauten. Wahrscheinlich haben wir - traditionell - zu autoritär gedacht.
Verkehrte und hilfreiche Vorbilder
Als ich 1962 meine erste Broschüre über die Organisation gewaltfreien Widerstands gegen Besatzungsregime schrieb, hielt ich mich an das Vorbild einer Untergrundorganisation der SPD bei der Verteilung von illegalen Zeitungen. Es handelte sich um eine hierarchische Gliederung, bei der es darauf ankam, dass im Falle der Verhaftung eines Mitgliedes dieses über die anderen - auch unter Folter - möglichst wenig sagen konnte. Ich hatte also ein Organisationsmodell vor Augen, welches das genaue Gegenteil einer gewaltfreien Bezugsgruppe darstellte, wie wir sie dann in den 80er Jahren nach amerikanischem Vorbild in der Friedensbewegung - im Vorfeld der Sitzproteste vor Raketenbasen - aufbauten. Wahrscheinlich ist mir das Unpassende der Struktur einer Untergrundorganisation 1962 nicht aufgefallen, weil ich auch bei Gandhi noch auf ein sehr traditionelles, eher autoritäres, häufig militärisch geprägtes Vokabular gestoßen war. Wir haben also auch versucht, den neuen Wein der gewaltfreien Aktion in die Schläuche des traditionellen Vokabulars und der bekannten Organisationsformen zu gießen.
Es ist meines Erachtens das große Verdienst von Unternehmungen wie der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, dass sie in ihrer Feinarbeit die Aktionsformen, die Organisations- und Trainingsmethoden entwickelt haben, welche es gestatten, auch tatsächlich gewaltfreie Aktionen durchzuführen. Es steckt eben nicht nur der Teufel im Detail, auch der Erfolg wird bei der Arbeit an den Details vorbereitet. Ich bewundere die Teamer und Trainer der Werkstatt für ihre Ausdauer und ich wünschte, es gebe viel mehr von ihrer Qualifikation.
Es ist erstaunlich, was in der Bundesrepublik mit vielfach improvisierten, spontanen gewaltfreien Aktionen in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde. Die Akteure haben ihr Know-How an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten gesammelt. Doch ich stehe zu der These, dass diese Form der Konfliktbearbeitung noch ein großes, unausgeschöpftes Potential birgt. Die gewaltfreie Aktion wird ihre volle Wirksamkeit erzielen, wenn in der gesamten Bevölkerung eine Art Alphabetisierung in gewaltfreier Aktion stattgefunden hat und wenn es für schwierige Aufgaben auch entsprechende Trainings gibt.
Die Bedeutung der großen Zahl
Anfang der 90er Jahre haben die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg und der Bund für Soziale Verteidigung - nach gemeinsamen Beratungen - einen Zivilen Friedensdienst vorgeschlagen, der auf der Basis einer Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung geleistet werden sollte. Daraus ist seit 1998 ein Friedensfachdienst in der Regie des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit geworden. Das Forum Ziviler Friedensdienst bemüht sich ausdauernd und auch mit Erfolg, die ursprünglichen Impulse aus der Friedensbewegung lebendig zu halten. Beim Zivilen Friedensdienst wird sicher im Einzelnen sehr gute Arbeit geleistet. Ich bedauere aber, dass nur wenige hundert Personen als solche Friedensfachkräfte im Einsatz sind. Es sind nur etwa 200. Angestrebt ist eine Verdoppelung der Zahl.
Meines Erachtens brauchen wir eine größere Breitenwirkung bei der Vorbereitung auf gewaltfreie Aktionen. Ich finde es vorzüglich, dass Silke Maier-Witt, ein kuriertes, früheres Mitglied der Roten-Armee-Fraktion, nun im Kosovo, in Prizren, als Fachkraft im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes tätig ist und sich um die Reintegration von Inlandsflüchtlingen bemüht. Gleichzeitig gibt es aber in der Region Prizren 3.300 Bundeswehrsoldaten, die sich auf ihre Weise versuchen, Pogrome gegen die wenigen verbliebenen Serben zu verhindern. Das sind alles sehr schwierige Aufgaben und ich behaupte auch gar nicht, dass ich ein gewaltfreies Rezept parat hätte. Nur eines scheint mir doch aus diesem Beispiel zu erhellen: Mit einigen wenigen Friedensfachkräften kann man in diesen ehemaligen Kriegsgebieten keine Friedenskultur aufbauen und Pogromen entgegenwirken. Dazu bedarf es auf jeden Fall einer größeren Zahl einsatzbereiter Menschen. Sie schwierig es auch sein mag: Diese Ausbildung einer größeren Zahl von Menschen müssen wir früher oder später anpacken. Wir dürfen uns nicht mit diesem kleinen Dienst der Friedensfachkräfte zufrieden geben.
Wir Politologen sprechen heute bewusst von der Macht der gewaltfreien Aktion. Der springende Punkt ist aber, dass die gewaltfreie Aktion erst dann zu einem unübersehbaren und unwiderstehlichen Machtfaktor wird, wenn eine große Zahl von Menschen beteiligt ist und über die Medien einbezogen wird. Es gibt ein Verständnis der gewaltfreien Aktion, das dem vorbildlichen Handeln des Einzelnen große Bedeutung bemisst. Gewiss, ein Fasten Gandhis konnte Pogrome stillen, aber eben auch nur, weil tausende Helfer in die Botschaft der Versöhnung einstimmten. Viele Bewegungen beginnen mit zeichenhaften Handlungen einzelner oder kleiner Gruppen und häufig geschehen sie ohne politisches Kalkül, einem Gewissensimpuls folgend, aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass die gewaltfreie Aktion immer erst dann zum Machtfaktor wird, wenn eine große Zahl von Menschen einbezogen wird. Wer von Macht redet, muss auch über Zahlen reden.
Planziel: Ziviler Friedensdienst
Ich bin in diesen Tagen eingeladen worden, in Rom am 18. Oktober an einer Konsultation über die Weiterentwicklung des italienischen Zivilen Friedensdienstes teilzunehmen. Dort hat man bisher auf die große Zahl gesetzt. Wieweit dies bewusst geschah, entzieht sich meiner Kenntnis. 2003 wurden 34.000 Freiwillige herangezogen und mit monatlich € 430 alimentiert. Ich weiß nicht genau, was diese Freiwilligen, Frauen und junge Männer, die für den Militärdienst nicht in Frage kamen, gemacht haben, aber ich finde es aufregend, dass man sich in Italien Gedanken darüber macht, was diese jungen Menschen lernen und tun könnten. Ich vermisse Vergleichbares in der Bundesrepublik.
Wenn man bedenkt, dass in Sachsen die rechtsextreme NPD zehn Prozent der Stimmen erhielt und noch schlimmer, dass ein Viertel der Jungwähler sich für diese Partei entschied, dann müsste doch klar sein, dass hier entsprechende Programme entwickelt werden müssen. Meines Erachtens sollte der Zivile Friedensdienst sich zunächst einheimischen Aufgaben zuwenden. Wenn wir große Zahlen wollen, dann geht dies meines Erachtens nur, wenn zumindest die ersten Einsätze im Inland stattfinden, wo die Freiwilligen mit der Sprache und der Kultur im Konfliktfeld vertraut sind.
Uns fehlen leider noch die Erfahrungen mit einer Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung für junge Menschen, die nur guten Willen mitbringen, aber ansonsten von Tuten und Blasen in Sachen gewaltfreie Aktion keine Ahnung haben. Man stelle sich vor: 34.000 Freiwillige sollen eine solche mehrmonatige Grundausbildung in gewaltfreier Aktion erhalten. Welche eine Aufgabe! Doch genau diese Aufgabe hatte die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg vor Augen, als sie ihr Modell des Zivilen Friedensdienstes vorschlug. Sie sah darin eine Option für die Wehrpflichtigen. Man rechnete mit zehntausend und mehr jungen Menschen, welche sich für diese Alternative entscheiden würden. Daraus ist vorläufig nichts geworden, weil der Zivile Friedensdienst ein Friedensfachdienst im Ausland wurde für Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung und einer gewissen Lebenserfahrung und anderweitig erworbenen Kenntnissen zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung.
Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung
Wie gesagt, ich finde gut, was die Friedensfachkräfte des gegenwärtigen Zivilen Friedensdienstes machen. Doch die eigentliche Herausforderung sehe ich nach wie vor darin, nonviolent task forces mit einer großen Zahl von jungen und meinetwegen auch älteren Menschen aufzubauen. Ich habe am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zusammen mit Angela Mickley und Christian Büttner Training in gewaltfreier Aktion für Politologen angeboten. Ich habe diese Trainingserfahrungen in dem Buch „Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär. Grundausbildung im gewaltfreien Handeln" veröffentlicht. Auszüge erschienen auch in „Gewaltfreie Aktion".
Wir standen vor dem Problem, dass es kaum Trainingsbeschreibungen gab. Zusammen mit den Stundeten habe ich ein Werkstattbuch geführt. Die Aufgabe des Werkstattbuches war, die Trainingseinheiten so anschaulich zu beschreiben, dass sich unsere Übungen nachahmen ließen, auch wenn man nicht dabei war. Manches war sicher dilettantisch. Wir haben experimentiert. Doch wir haben Buch geführt über unsere Experimente. Nur so entsteht vermittelbares Wissen.
So ein Kurs an einer Universität besteht im Grundstudium aus 12 bis 14 Doppelstunden. Im Hauptstudium habe ich dann Projektkurse angeboten. Diese sind vierstündig und erstrecken sich über zwei Semester. Ich habe diese noch mit einer Vorlesung über die Strategie der gewaltfreien Konfliktaustragung verbunden. Das ist das Intensivste, das man an einer Universität machen kann.
Die Studenten waren überzeugt, dass sie in den Kursen viel gelernt haben, aber wir mussten uns auch eingestehen, dass wir Verhaltenssicherheit in schwierigen Konfliktsituationen in einem solchen Training noch nicht erlangen konnten. Die Studenten haben als Ergebnis des Kurses bezeichnet, dass sie in Zukunft bewusster und phantasievoller an die Konfliktbearbeitung herangehen würden. Das Manko unserer Trainings war, dass wir die meisten Übungen nur einmal machten. Vieles wurde nur ausprobiert, gewissermaßen angespielt. Doch erst durch mehrfache Wiederholung der Übungen hätten wir allmählich so etwas wie Verhaltenssicherheit erlangen können.
Nachdem ich am Otto-Suhr-Institut doch ein halbes Dutzend Trainingskurse und viele Vorlesungen und Seminare zu gewaltfreien Konfliktaustragung angeboten haben, frage ich mich immer noch, was eine erfolgsorientierte Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung wirklich ist. Wir sind noch nicht so weit, dass wir Bewährtes standardisieren könnten. Wenn wir jetzt plötzlich zehntausend und mehr junge Menschen eine solche Grundausbildung angedeihen lassen müssten, würde es wahrscheinlich zunächst ein ziemliches Durcheinander geben. Doch schlimm wäre das nicht. Viele Wege führen nach Rom. Da kann man experimentieren und nach einiger Zeit werden sich dann Standards und bewährte Trainingseinheiten herausbilden. Ganz anders als bei der militärischen Grundausbildung wird man sich beim gewaltfreien Training an gerade aktuellen Konfliktsituationen orientieren und auf diese Situationen hin trainieren. So ist man ja auch verfahren, als es darum ging, sich auf einen Sitzprotest vor einer Raketenbasis, auf eine Festnahme und später auf das Erscheinen vor Gericht vorzubereiten. Das ist in tausenden von Fällen gut gegangen. Ich bin da also gar nicht pessimistisch. Lasst die Freiwilligen erst mal kommen; das Training wird sich dann schon entwickeln. Die Freiwilligen können alle lesen und schreiben. Erste Anleitungen gibt es. Wenn es noch nicht genügend Trainer gibt, dann müssen sich die Freiwilligen eben selbst trainieren und die Erfahrungen untereinander austauschen. Diejenigen, die sich heute Trainer nennen, sind doch auch Autodidakten.
Ich bin sicher, dass in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, in den vergangenen 20 Jahren eine Fülle von Erfahrungen gesammelt und zu einem erheblichen Teil auch weiter vermittelt wurden. Unsereiner kann hier nur dazu lernen. Ich wollte hier auch nicht mit Berliner Universitätserfahrungen konkurrieren. Mein Bestreben war, mit meinem Vortrag anzudeuten, welches Potential in der gewaltfreien Aktion steckt und wie wichtig auch das Schielen nach der großen Zahl ist, damit eben gewaltlos nicht gleichbedeutend ist mit machtlos. Die Bedeutung der Pionierarbeit der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion besteht darin, dass sie im Verbund mit ähnlichen Initiativen die Bundesrepublik darauf vorbereitet, eine vorbildliche Friedensmacht zu werden. Für die nächsten zwanzig Jahre, nicht hoch die Fäuste, sondern zeigt die offenen Hände!
Glück auf und Shalom!
Prof. Dr. Theodor Ebert, Professor für Politische Wissenschaft mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung an der FU Berlin