Widerstände und Ansätze zu ihrer Auflösung
Konrad Tempel: Gewaltfreiheit lernen: Widerstände und Ansätze zu ihrer Auflösung
Wir alle, die wir im gewaltfreien Spektrum zu hause sind, wissen, daß es für jedes Lebensalter sehr qualifizierte Angebote gibt, sich gewaltfreie Methoden der Auseinandersetzung und Konfliktbearbeitung anzueignen und sich ins gewaltfreie Denken einzuüben.
Wie kommt es, daß diese Angebote trotz der vorhandenen regionalen und inhaltlichen Vielfalt so zögernd genutzt werden?
Es scheint, daß es sich lohnt, die möglichen Widerstände genauer zu bedenken - unter "Anbieter-" und unter "Abnehmer-"Gesichtspunkten (A) und (B).
(A) Könnte es sein, daß die folgenden Barrieren - in Kombination untereinander oder einzelnen - mit dafür verantwortlich sind, ein Interessse an aktiver Gewaltfreiheit nicht aufkeimen oder ersticken zu lassen?
- Das Gefühl, es handle sich bei Gewaltfreiheit um ein "unanständiges" Phänomen, das Ruhe und Ordnung gefährdet, zivile Normen erschüttert und mit Gefahr verbunden ist und das deshalb als bedrohlich empfunden wird (vgl. die Kette: Sitzblockaden - Wasserwerfer/prügelnde Polizisten - Gerichtsverfahren).
- Die Selbstbeurteilung, daß das eigene Verhalten bereits gewaltfrei sei: < Ich bin nicht kriminell >, < ich übe keine Gewalt aus >, < ich suche immer nach zivilen Lösungen > .
- Die Einschätzung, daß weder persönlich noch politisch Bedarf dafür vorhanden sei, sich zu wehren und andere als die herkömmlichen rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen; während bei uns etwa das Selbstbestimmungsrecht nicht bedroht sei, könne dies auf andere Regionen durchaus zutreffen (für die Opposition in Belgrad oder die Ur-Einwohner von Australien).
- Die Auffassung, daß es zum Wesen der Demokratie gehöre, "Stellvertreter" für sich handeln zu lassen, die die Verantwortung dafür haben, daß die Welt dort, wo sie inUnordnung geraten ist, auch wieder gerichtet wird - u.a. mit den Mittteln des Rechts und des Militärs.
- Die Vermutung, daß das Angebot zur Beschäftigung mit neuen Methoden aus der Position moralisch-politischer Überlegungenheit formuliert würde, so daß alle, die das Angebot annehmen, ein erhebliches Defizit eingestehen.
- Die Befürchtung, daß es eigentlich nicht um die Frage der politischen Mittel, sondern um das "Lebensprinzip Gewaltfreiheit" ginge, so daß alle, die sich darauf einlassen, eine grundlegende Wendung in "alternative" Positionen mit radikaler Änderung der Wert-Prioritäten vornehmen müßten.
- Die Entdeckung, daß an einigen Stellen von der fälligen "Alphabetisierung in Gewaltfreiheit" gesprochen wird, und die daraus resultierende, das Selbstbewußtsein beeinträchtigende Sorge, einem Schulkind gleichgestellt zu sein, das die Grundfertigkeiten zur Lebensbewältigung bei Eintritt in den Lernprozeß noch nicht beherrscht.
(B) Die naheliegende Überlegung, solche "Hürden" mit Argumenten zu entkräften und damit abzubauen, greift zu kurz, und dies nicht nur, weil mit Abwehr-Gefühlen subtile nicht-rationale Prozesse verbunden sind.
Innere Schwierigkeiten ernstzunehmen, bedeutet, ihr Vorhandensein und ihre blockierenden Wirkungen zu akzeptieren und einfühlend und fragend auf sie einzugehen. Deshalb könnte es zweckmäßig sein, die den Widerständen zugrundeliegenden Ängste und die durch sie geschaffenen Barrieren genauer zu betrachten und zu fragen, was wir - die Anbietenden - zu ihrer Verkleinerung tun können.
Es liegt auf der Hand, daß wir als Anbieter wenig Einfluß auf die inneren Hürden 1 bis 4 haben. In dem einen oder anderen Fall können wir gesprächsweise vielleicht ermutigend und erhellend zum Erkennen und zur Verringerung der Widerstände beitragen, die eigentliche Bearbeitung wird von den Menschen selbst geleistet werden müssen, die sie in sich spüren.
Unsere Chance liegt in der aufmerksamen Betrachtung der Barrieren 5 bis 7:
Manchmal scheinen wir in der Tat für Interessierte so zu wirken, als besäßen wir ein Wahrheitsmonopol, als stünden wir werbend mit der Fahne des Lichts auf einem Podest, zu dem es nur hinaufzuklettern gilt, um auf der richtigen Seite zu stehen und und den wirklichen Überblick zu bekommen. Je stärker wir bewußt oder unbewußt signalisieren, daß wir anderen einige Schritte voraus sind, je weiter wir durch Selbstanspruch und Kompetenz in Sachen Gewaltfreiheit von ihnen entfernt sind, desto längere Strecken haben sie zurückzulegen, desto höher haben sie zu klettern.
Um diese Schwierigkeit zu relativieren, müssen wir uns die Abstände zwischen ihnen und uns genau ansehen und uns fragen, was wir tun können, um leichter als bisher erreichbar zu sein.
Je mehr wir zulassen, daß in unseren werbenden Aktivitäten Fragen der grundsätzlichen und lebensphilosophischen Gewaltfreiheit in denVordergrund treten, u.U. weil wir nicht prägnant genug auf die Vermittlung "einfacher Methoden" Wert legen, desto geringer ist die Chance, daß sich Interessierte darauf einlassen.
Gene Sharp (Harvard-Universität) hat schon vor 15 Jahren behauptet: Die ‘prinzipiell’ Gewaltfreien trügen durch die Absolutheit ihres Anspruchs dazu bei, daß nicht mehr Menschen bereit seien, sich mit gewaltfreien Techniken auseinanderzusetzen.
Wenn darin nur ein Körnchen Wahrheit steckt, tun wir gut daran, alle unsere Angebote zu überprüfen, ob sie hinreichend den Werkzeug-Charakter ziviler Methoden deutlich machen (wie es in dem viermonatigen Training, das vom Land Nordrhein-Westfalen finanziell gefördert wird, und in der WEGE-Kampagne geschieht).
Wenn unbedacht und vergröbernd von der angestrebten "Alphabetisierung" gesprochen wird, heißt dies: Neugierige abzuschrecken. Denn niemand, der in einer europäischen Gesellschaft aufgewachsen ist, muß beim Nullpunkt anfangen. Wer sich auf ein Training einläßt, bringt ein erhebliches Potential an zivilen Erfahrungen mit (vielleicht ohne den gewaltfreien Kern darin zu kennen).
Im Rahmen aller "Ausbildungen" sollte es deshalb darauf ankommen, frühere Erfahrungen in den Mittelpunkt zu stellen und an Vorhandenes anzuknüpfen. Nur so können die Interessierten - anders als Erstkläßler - mit Selbstvertrauen zur Gestaltung ihrer eigenen Lernprozesse beitragen.