Destruktion mit verteilten Rollen: Wie Neoliberalismus, Neokonservatismus und Neue Rechte gemeinsam den Geist aus der Universität vertreiben – und wie eine Alternative aussehen könnte.

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Destruktion mit verteilten Rollen: Wie Neoliberalismus, Neokonservatismus und Neue Rechte gemeinsam den Geist aus der Universität vertreiben – und wie eine Alternative aussehen könnte.

Michael Weingarten

0.

Die folgenden Überlegungen sind erste Ausarbeitungen hin zu einem Forschungsprojekt, das den Zusammenhang und die wechselseitig unterstützende Beeinflussung von Neoliberalismus und Neokonservatismus zum Untersuchungsgegenstand hat. Leit(hypo-)these ist, dass weder Neoliberalismus noch Neokonservatismus je für sich politisch erfolgreich sind und sein können. Beide sind aufeinander angewiesen – auch wenn viele ihrer grundlegenden Annahmen sich widersprechen oder gar wechselseitig ausschließen.1 Insofern ist das Bündnis und Zusammengehen von Neoliberalismus und Neokonservatismus immer instabil und vom Zerbrechen bedroht – man erinnere sich nur an die harsche Abrechnung des neokonservativen Günter Rohrmoser mit Helmut Kohl und dessen Politik, nachdem diese sich eben neoliberales Projekt zeigte; für Rohrmoser handelte es sich um „das Debakel“, nicht aber um die von ihm und vielen anderen Neokonservativen und Neu-Rechten erwartete „Wende“ und „geistig-moralische Erneuerung“.2 Zugleich aber bietet die grundsätzliche Inhomogenität des herrschenden Blocks von Neoliberalismus und Neokonservatismus auch den Ansatzpunkt für eine linke transformatorische Politik. Dazu ist eine genaue Analyse des hegemonialen Blocks in den Feldern, die dessen Hegemoniefähigkeit (mit) begründet haben, erforderlich. Insbesondere handelt es sich um die Felder der Bildungs- und der Geschichtspolitik. Für das Feld der Bildungspolitik kann in einem ersten analytischen Schritt als „Aufgabenteilung“ zwischen Neoliberalismus und Neokonservatismus festgehalten werden, dass der Neoliberalismus sich um die institutionelle Umgestaltung von Bildungseinrichtungen bemüht (Privatisierung, Unternehmensform, betriebswirtschaftliche Rechnungsführung mögen hier als Stichworte genügen). Genau an der fehlenden institutionellen Umgestaltung bzw. sowohl an dem Fehlen politischer Kräfte für diese Umgestaltung als auch an dem Fehlen einer eigenen auf die Institutionen bezogenen Umbauprogramm ist die bildungspolitische Offensive der Neokonservativen in den 1970er und 1980er Jahren gescheitert, die sich unter Tagungstiteln wie „Mut zur Erziehung“ als eng verzahnt zeigten mit der Auffforderung „Mut zur Wende“. In dieser „Aufgabenteilung“ bemüht sich der Neokonservatismus schon lange um Bildungs- und Erziehungsinhalte („Führung“, „Disziplin“, „Pflicht“, um Stichworte von Berhanrd Bueb anzuführen). Eine gemeinsame programmatische Forderung ist dagegen der Ruf nach „Eliten“.


1.

In dieser Hinsicht – der Analyse der Hegemoniefähigkeit des herrschenden Blocks – bin ich zumindest immer wieder verblüfft über das Unhistorische der gegenwärtigen Diskussion um Hochschul- und generell Bildungspolitik. Dabei hat doch schon Georg Picht in seiner Diagnose der Bildungskatastrophe und deren Analyse Anfang der 1960er Jahre nahezu alles das an Problemen aufgelistet, was heute über „PISA-Studien“, BA/MA-Studiengänge, chronische Unterfinanzierung und personelle Unterausstattung als „neu“ erfahren wird. Und weiter: wüsste man nicht , dass es sich bei folgenden Zitaten um Teile der Antrittsvorlesung Werner Hofmanns in Marburg 1967 handelt, könnte man diese Ausführungen als gegenwärtig geschrieben verstehen. Hofmann hält fest: „Was der gegenwärtigen Krise unserer Hochschule erst ihren ganzen Ernst, ihre abgründige Tiefe gibt, ist nicht nur die historisch begründete innere Schwierigkeit der Universität selbst, sondern ebenso die besondere Natur der Reform, der neuen gesellschaftlichen Erwartungen, die sich heute auf unsere Hochschulen richten, ihre offenkundige Inanspruchnahme für Bedürfnisse höchst außerwissenschaftlicher Art – allem voran für Zwecke des ökonomischen Wettbewerbs mit der Umwelt. Der inneren Selbstentwertung der Universität folgt ihre Verwertung, ihre Indienstnahme für gesellschaftliche Machtziele, nach. Es wird damit heute offenbar, dass die bisherige Freiheit der Wissenschaft ein Recht der gesellschaftlichen Absonderung gewesen ist, das nicht länger bewahrt werden kann. In einer Gesellschaft der allgemeinen Verwertung, der totalen »Rechenhaftigkeit«, der individuellen Vorteilssuche, in einer Gesellschaft der Gewinn- und Verlustrechnung muß Wissenschaft, soweit sie ihre Gegenstände aus eigener Vollmacht wählt und der Zudringlichkeit gesellschaftlicher Interessen widersteht, als eine Restsphäre dessen erscheinen, was nicht nutzbar zu machen und daher unnütz ist. Was hingegen der tragende Teil unserer Gesellschaft benötigt, ist eine große Zahl von Fachleuten, die tauglich sind, Apparaturen zu bedienen – die technischen wie die sozialen. Das gegenwärtige Bemühen um Hochschulreform zielt auf einen vergrößerten Ausstoß an Menschen, die brauchbar sind.“3 Der Orientierung auf einen „Ausstoß von Menschen, die brauchbar“ entspricht auf der anderen Seite die Austauschbarkeit der Lehrenden, die nur noch „normierten Stoff“ darzubieten haben; einen „normierten Stoff“, der auf der „Enttheoretisierung mit der Folge der Desorientierung im rein Fachlichen der Einzeldisziplinen“ beruht. Für die Studierenden hat dies wiederum zur Konsequenz: „In dem fordernden Anspruch einer Häufung von blinden, selbstgenügsamen Spezialitäten ist wohl die eigentliche Pein des studentischen Daseins von heute zu sehen. Hierin liegt ein studienverlängernder Umstand, dem keine äußere Organisierung des Studiums, kein immer neues Ballastabwerfen, keine Studienplanung allein beikommen kann. Die Fatalität der Entwicklung liegt darin: Der theoretischen Verarmung vieler akademischer Disziplinen, ihrer Wendung zum rein Stofflichen, folgt die Entwertung der Faktizität selbst, und damit die tendenzielle Verkümmerung auch des Wissensstandes, nach. Der Sinn der wissenschaftlichen wie aller Arbeitsteilung überhaupt schlägt hier in sein Gegenteil um: Die fachliche Beschränkung bedeutet nicht einmal mehr erhöhte Effizienz; der ständige Zuwachs an Detailkenntnis, der produziert wird, geht einher mit bildungsmäßiger Verarmung des wissenschaftlichen Spezialarbeiters.“4 Ist das nicht eine ziemlich treffende vorweggenommene Beschreibung und Problematisierung der gegenwärtigen BA/MA-Studiengänge? Hofmann skizziert weiter, was die 1967 geplante „Reform“ für die Studierenden bedeutet. „Kann man im Ernst von jungen Menschen, die von einem akademischen Detailhändler zum anderen eilen müssen und die vor einer gefüllten Bücherwand Schwindelgefühle erfassen mögen, den Kraftakt erwarten, dass sie mehr vollbringen als ihre akademischen Lehrmeister selbst und die auf den Schlachtfeldern des Geistes zerstreuten membra disiecta des Wissensgutes, wie Gudrun in der Sage, zu neuem Leben zusammenfügen? Vielmehr entspricht dem Zuschnitt einer Wissenschaft, die immer mehr Dinge erlernbar gemacht hat und die dem schöpferischen Einfall gründlich misstraut, ein rezeptiv und reproduktiv eingestelltes studentisches geistiges Rentnertum, das eine geradezu konstitutive Furcht vor konsequenzenreicher Einsicht, vor der klaren, uneingeschränkten Aussage, vor dem Einstehen für eine begründete wissenschaftliche Überzeugung an den Tag legt.“5 „Geistiges Rentnertum“ – das sind die „nutzbaren“ Menschen, die der neoliberalen Überzeugung entsprechend als „Produkte“, „Waren“ an den Bildungseinrichtungen produziert werden sollen und sich der „Erfolg“ einer Universität in der „Marktgängigkeit“ ihrer Produkte zu zeigen hat. Die schlimmsten Aspekte der von Hofmann problematisierten „Reform“ konnten 1967 verhindert werden. Und dies war damals nicht zuletzt deswegen möglich, weil es eine politisierte Studentenschaft und eine breite außerparlamentarische politische Bewegung gegeben hat. Und die Einführung der BA/MA-Studiengänge konnte wohl – im Unterschied zu Hofmanns Zeiten – deswegen so unproblematisch eingeführt werden, weil nicht nur eine politisierte Studentenschaft fehlte und bis heute fehlt, sondern auch weil die meisten Mitgliedern der Universitäten sich selbst und ihr Tun nicht mehr politisch verstehen. Daher könnte diese Bewusstlosigkeit in Folge des Verlustes der historischen Dimension, des fehlenden Wissens um das Gewordensein von Problemlagen vielleicht selbst schon eine Infektion durch den Neoliberalismus sein, die wir erleiden, indem wir uns diese historische Dimension von Reformen an den Bildungseinrichtungen nicht bewusst machen; die die fast selbstverständliche Übernahme der Redeweisen von „Exzellenz“, „Leuchtturm“, „Alleinstellungsmerkmal“ usw. erklärt.


2.

Selbstverständlich ist der gegenwärtige Neoliberalismus – wie auch schon seine Vorläuferprojekte – nicht deswegen zu kritisieren, weil er Veränderungen des Bildungs- und Hochschulsystems fordert. Das dürfte wohl ein unbestrittener Konsens über alle Parteigrenzen hinweg sein: Veränderungen sind absolut notwendig und schon lange überfällig! Und Veränderungen oder gar Entwicklungen sind nur zu realisieren durch die „Zerstörung“ bestehender Strukturen, Funktionen, Institutionen usw. Zu solchen „Zerstörungen“ gehört etwa die Auflösung tradierter disziplinärer Strukturen angesichts neuer Forschungs- und gesellschaftsrelevanter Probleme. Produktiv wäre ein solcher Abbau dann, wenn eine transdisziplinäre Ausbildung und Forschung ermöglicht würde. Die Einrichtung solcher transdisziplinärer Studiengänge, die eine Verhältnisbestimmung von Disziplinarität, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität erfordert, ist aber selbst erst einmal als Aufgabe von Forschungen zu begreifen, nämlich von Forschungen hinsichtlich der Neugestaltung bisheriger universitärer Lehre bzw. der Neugestaltung und Neubestimmung des Verhältnisses von Lehre und Forschung. Aber sind und können die Zerstörungen, die der gegenwärtig hegemoniale Block verwirklicht, „produktiv“ oder „schöpferisch“ sein? Gegenüber dem Neoliberalismus ist diese Frage schon allein deswegen zu stellen berechtigt, hat doch Schumpeter schon in den 1930er Jahren darauf hingewiesen, dass das Programm des Neoliberalismus in der Form, die Hayek ihm gegeben hatte, nur den Aspekt des Abbaus und der Zerstörung enthält, aber eben nicht zum Aufbau von etwas Neuem führen kann. Für Schumpeter war der Neoliberalismus immer nur Symptom einer Krise, niemals aber ein Ansatzpunkt für die Therapie der Krise. Bezogen auf das oben angeführte Beispiel der Einführung transdisziplinär ausgerichteter Studiengänge ist festzuhalten, dass der Neoliberalismus die Belange der Lehre vollkommen ausblendet. Wird von „Exzellenz“ gesprochen, dann ist damit nur die Forschung gemeint. Dass aber gute Forschung gute Lehre zur Voraussetzung hat, bleibt vollkommen ausgeblendet. Es scheint keinem der bundesdeutschen Bildungspolitiker aufgefallen und ein Problem zu sein, dass dort, wo traditioneller Weise universitäre Ausbildung in Form von Bachelor- und Masterstudiengängen erfolgt, der Bereich der universitären Lehre erheblich besser ausgestaltet ist als in der BRD; die dort weitgehend realisierte Betreuungssituation von 8 Studierenden zu einem Lehrenden, die ein erheblicher Bestandteil des BA-Studiums ist, ist unter den Bedingungen der Durchführung der sog. „Reform“ in der BRD eine bloße Utopie. „Exzellenz“ könnte also nur dann als sinnvoll mögliches Programm ins Auge gefasst werden, wenn zunächst einmal von der Bildungspolitik in die Belange der Lehre investiert werden würde. In dieser Hinsicht ist weiter zu fragen, warum in Umsetzung des Bologna-Prozesses in der Bundesrepublik die Diplom- und Magisterstudiengänge abgeschafft und dafür Bachelor- und Masterprogramme eingeführt wurden – dies alles ist in den Bologna-Richtlinien nicht enthalten, ebenso wenig die Regelung, dass das Bachelorstudium 6 Semester, das Master-Studium 4 Semester als Regelstudienzeit umfassen soll. Die von Bildungspolitikern benannten Ziele der Einrichtung dieser Studiengänge – Verkürzung der Studiendauer, Reduzierung der Zahl der Studienabbrecher, internationale Vergleichbarkeit der Studienleistungen – treffen alle nicht zu: War die Regelstudienzeit bei den Diplom- und Magisterstudiengängen 8 Semester, so ist die Regelstudienzeit bei dem Master-Abschluß, wenn man ihn als Äquivalent zu Diplom und Magister gelten lässt, 10 Semester. Die Zahl der Studienabbrecher hat sich im BA-Studiengang drastisch erhöht; die „internationale Vergleichbarkeit der Studiengänge“ hat zu einer Provinzialisierung geführt, weil die an einer Universität erbrachten Studienleistungen schon nicht mehr umgerechnet werden können zu den erforderten Leistungen an einer Nachbaruniversität im selben Bundesland. Liegt dieser neoliberalen „Reform“ also doch wesentlich als Ziel zu Grunde die Produktion marktgängiger, kritischer Reflexion unfähiger menschlicher Produkte wie Werner Hofmann schon 1967 vermutete?


3.

Nun ist es sicherlich eine wichtige Aufgabe kritischer Wissenschaft, das neoliberale Destruktionsprogramm zu analysieren und zu kritisieren. Kritik meint aber genau nicht nur die Kritik vorfindlicher Objekte, sondern Kritik im Sinne des genetivus subjektivus umfasst auch immer die Frage nach der Möglichkeit dessen, was in der Kritik zum Gegenstand der Analyse wurde. Es gehört also ebenso unverzichtbar zur Aufgabe kritischer Wissenschaft eigene begründete Vorschläge zu machen wie moderne Bildungseinrichtungen beschaffen sein sollten. So ist ja der Titel der Ringvorlesung nicht nur und einfach eine Anspielung auf den Vortrag Jacques Derridas „Die unbedingte Universität“; sondern mit dieser Anspielung greift er ja in gewisser Weise auch Derridas Vorschlag zu einer demokratischen Veränderung bzw. Umgestaltung der Universitäten auf. Dabei geht es Derrida nicht um Forderungen, die sich etwa um monetäre Probleme drehen wie qualifizierte Ausbildung als Grundrecht, das jedem gewährt werden müsse und nicht in Abhängigkeit der finanziellen Eigenbeteiligung nur durchgeführt werden könne. Sondern ihm geht es um die Bestimmung dessen, was die Rede von „Universität“ und erst recht von „moderner Universität“ rechtfertigen könnte. Die moderne Universität, also der Typus von Institution, der seit 300 Jahren vorherrschend ist zumindest in demokratischen Staaten, sollte bedingungslos bzw. unbedingt sein, also von jeder einschränkenden Bedingung frei sein. „Was diese Universität beansprucht, ja erfordert und prinzipiell genießen sollte, ist über die sogenannte akademische Freiheit hinaus eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung, mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt.“6 Behalten wir zunächst im Hinterkopf, dass es Derrida um etwas geht, das über die akademische Freiheit hinausgeht und das es sich bei dieser akademischen Freiheit um eine sogenannte handelt; eine gewisse Skepsis gegenüber der traditionellen Forderung nach Freiheit und Lehre ist so schon heraushörbar. Die moderne Universität sollte unbedingt sein – und diese Sollens-Aussage indiziert, dass die Universität das, was sie sein sollte, nicht ist und es auch nie war. Aber Derrida meint damit eben nicht einfach, dass durch faktische Zwänge und Einschränkungen das, was die Universität sein sollte, nämlich unbedingt, verhindert oder zumindest behindert würde. Vielmehr geht es Derrida in systematischer Hinsicht darum, dass das, was die moderne Universität ihrem Wesen nach ist, nämlich unbedingt, kein Zustand ist und sein kann, der irgendwann erreicht werden könne; vielmehr kann das, was die Universität ihrem Wesen nach ist, nur im Tun der Universität werden. D.h. nur die Universität selbst, nicht aber Vorgaben von Außen, kann die Unbedingtheit ausgestalten – und dies auch nicht ein für allemal, sondern eben immer wieder als nicht abschließbarer Vollzug dieses Tuns. Mit der behaupteten Unbedingtheit der Universität, die in ihrem Tun sich verwirklicht, ist also zugleich gesetzt, dass die Universität sich selbst in ihrem Verhältnis von faktisch ausgestalteter Institution (Zustand) und ihrem „Wesen“ der Unbedingtheit zu reflektieren hat oder dass sie sich in dieser Reflexion als unbedingt zeigt. Diese Reflexion ist ihr aber nur dann möglich, wenn sie machtlos ist. Nur so kann sie gewährleisten, dass sie selbst nicht in bestimmte Interessen eingebunden ist, die die Unbedingtheit und – wie Derrida formuliert – das „Wahrheitsgelübde“ einschränken. Aus dieser Machtlosigkeit resultiert dann aber eine permanente Gefährdung. „Weil sie gänzlich unabhängig, ganz auf sich gestellt ist, bleibt die Universität auch eine schutzlos preisgegebene, einzunehmende, zuweilen zur bedingungslosen Kapitulation verurteilte Festung. Wohin sie sich auch begibt, sie steht kurz davor, sich preiszugeben. Weil sie es nicht duldet, daß man ihr Bedingungen aufzwingt, ist sie, blutleer und abstrakt, manchmal gezwungen, sich bedingungslos zu ergeben.“7 Und genau dies, sich bedingungslos zu ergeben, kennzeichne den gegenwärtigen Zustand der Universität. „Ja, manchmal gibt sie sich preis und verkauft sie sich; sie läuft Gefahr, schlicht und einfach besetzt, erobert, gekauft, zur Zweigstelle von Unternehmen und Verbänden zu werden. Darin steht heute, in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt, ein enormer politischer Einsatz auf dem Spiel: In welchem Ausmaß dürfen Forschungs- und Lehreinrichtungen gefördert, das heißt direkt oder indirekt von kommerziellen Interessen kontrolliert, oder, um es mit dem Euphemismus zu sagen: »gesponsert« werden?“8 Die Universitäten ergeben sich bedingungslos; sie werden zwar angegriffen, aber sie selbst sind es als in gewisser Weise Tätige, die sich in einer bestimmten Weise zu diesem angegriffen werden verhalten (nämlich sich ergebend, und zwar bedingungslos) und damit das, was sie sind (unbedingt), verwirklichend – wenn auch in falscher Weise. Es ist somit verkürzend, wenn nicht falsch, zu sagen, dass die Universitäten in einem heroischen Abwehrkampf gegen z.B. neoliberale Ansprüche verloren haben und nur von außen, extern und bloß erleidend zu Zweigstellen von Unternehmen umgestaltet wurden. Vielmehr ist es ein Wechselspiel von „äußeren Angriffen“ und internem Entgegenkommen gegen den Angreifer, der die Universitäten sich nicht nur bedingungslos ergeben lässt; und dieses dem Angreifer Entgegenkommen zeigt sich darin, dass es ja die Universitäten wiederum selbst sind, die sich preisgeben (bedingungslos ergeben), indem sie sich verkaufen; oder anders: das erobert werden der Universitäten durch das bedingungslose sich Ergeben ist nichts anderes, als dass die Universitäten sich verkaufen. Würden Die Universitäten einfachhin von außen erobert, dann wäre es sinnlos zu sagen, dass das Erobert werden ein sich verkaufen sei; das Erobern müsste bzw. könnte in diesem Falle als gekauft werden oder eingekauft werden beschrieben werden; also als etwas, das den Universitäten widerfährt und auf das sie keinen Einfluß haben und haben könnten. Aber wie gesagt – die Universitäten selbst sind es, die sich verkaufen; sie sind die Täter eines Tuns, das einerseits erscheint als Verwirklichung ihres Wesens (der Unbedingtheit); andererseits aber genau dieses Wesens im Vollzug dieses Tuns (des sich Verkaufens) zerstört. Vielleicht wird jetzt verständlich, warum Derrida hinter die klassisch-liberale Vorstellung von Freiheit von Forschung und Lehre ein Fragezeichen setzt und setzen muss. Denn damit war eben gemeint, dass Universitäten sich zwar abschotten müssen gegen von außen an sie herangetragene Zwecksetzungen, dass sie aber selbstverständlich, wenn es ihren Zwecksetzungen entspricht, sich mit dem, was von ihnen hergestellt wird, als Anbieter von Produkten auf dem Markt versuchen dürfen. Insofern gestaltet der Neoliberalismus die klassische Vorstellung von „Hochschulautonomie“ weiter aus, indem er zur Ermöglichung dieser Autonomie auch das Erwirtschaften von Geldern rechnet, die die Hochschulen unabhängig machen (sollen) von staatlichen Zuweisungen. Insofern muss Derridas Rede von der Unbedingtheit der Universität verstanden werden als Alternative zur klassischen Rede von Freiheit von Forschung und Lehre bzw. von Hochschulautonomie. Wie kann diese Rede von der Unbedingtheit der Universität so konturiert werden, dass sie als wirkliche Alternative gegenüber ihrem bisherigen Selbstverständnis sichtbar wird? Folgt man Derridas Überlegungen, dann wird die Rekonstruktion seiner Unterscheidung verschiedener disziplinärer Typen, den „humanities“ und den anwendungsorientierten Disziplinen wichtig. Vielleicht ist es sinnvoll möglich, humanities mit Reflexionswissenschaften zu übersetzen. Denn Derrida meint genau nicht die klassische Unterscheidung und Entgegensetzung von Geistes- und Naturwissenschaften oder von ideographischen und nomothetischen Wissenschaften, sondern vielmehr die Unterscheidung von Wissensformen, die sich sowohl in den „Geisteswissenschaften“ als auch in den Natur- und Technikwissenschaften finden; und Reflexionswissenschaften gibt es in den Naturwissenschaften genauso wie in den „Geisteswissenschaften“. Die Stoßrichtung der Derridaschen Überlegung möchte ich wiederum erläutern im Rückgriff auf Werner Hofmann. Denn auch dieser greift in seinem Aufsatz „Die gesellschaftliche Verantwortung der Universität“ aus dem Jahre 1968 einerseits scheinbar die klassische Vorstellung von Freiheit von Forschung und Lehre und die damit verbundene Abschottung der Universität gegenüber externen Zwecksetzungen auf, um sie dann aber in der Explikation ihres Gehaltes gegen sich selbst wenden und so eine Neubestimmung des Verhältnisses von Universität und Gesellschaft zu ermöglichen. So schreibt Hofmann zunächst: Die Universität „muß sich aller außerwissenschaftlichen Interessen erwehren, die sich aus dem Raum der Gesellschaft auf sie richten.“9 Die Differenz zur klassisch-liberalen Vorstellung wird dann aber schon in der Begründung sichtbar, die Hofmann zur Begründung dieser Behauptung gibt. „Denn unsere Gesellschaft selbst ist keine Einheit. Sie ist zerfallen in widerstreitende soziale Gruppen, mit ihren Wünschen, Interessen und Ideologien. Und so gelangt man zu einer ersten These: Zu wahren ist heute nicht nur die Staatsfreiheit, sondern überhaupt die Interessenfreiheit von Forschung und Lehre, will diese nicht ihre innere Autonomie verspielen. Dies scheint denkbar weit vom Ausgangsgedanken einer gesellschaftlichen Verantwortung der Universität und ihrer Angehörigen wegzuführen. In Wahrheit ist die Interessenfreiheit die erste gesellschaftliche Anforderung an sie. Denn Wissenschaft hat die Interessen, die sich auf sie richten, nicht etwa zu ignorieren, sondern vielmehr selbst zu untersuchen. Die erste Aufgabe ist kritische Prüfung jener Erwartungen, die sich an sie heften – und das kann auch heißen: kritische Prüfung der Interessen, in die sie schon verstrickt worden ist. Die hier entwickelte erste These erhält so eine bestimmtere Wendung: Die primäre gesellschaftliche Aufgabe von Wissenschaft ist, Distanz zwischen sich und die Gesellschaft zu legen.“10 Diese gesellschaftliche Aufgabe von Wissenschaft richtet sich aber genauso an die Wissenschaft selbst: die Wissenschaft ist es sich selbst schuldig, frei von partikulären Interessen zu sein.11 Insofern hebt sich in der Durchführung dieser Bestimmung der scheinbare Widerspruch zwischen Autonomie und Verantwortung auf und zwar in der Wissenschaft selbst, insofern sie Wissenschaft ist. Hofmann formuliert als zweite These daher: „Wissenschaft findet zur Gesellschaft, indem sie zu sich selbst findet.“12 Die Ausformulierung dieser beiden Thesen ermöglicht eine dritte, in die auch die Gegenstände von Forschung und Lehre mit reflektiert werden: „Vielleicht aber würde sich der Aspekt ändern, unter dem diese Gegenstände als entweder in sich gesellschaftlich relevant oder als bedeutungsvoll für die Gesellschaft – und das heißt auch: für die gesellschaftlichen Formen des Denkens – betrachtet werden. Damit werden auch die Bedeutungsgehalte, die sich an das tradierte Lehrgut heften, werden die Kriterien der getroffenen Auswahl zu Gegenständen der Überlegung. Denn die Universität verhält sich gesellschaftlich nicht nur darin, welche Fragen sie sich stellt, und wie sie sich diese stellt, sondern auch darin, welche Fragen sie sich nicht stellt. Der dritte Leitsatz (der aus dem zweiten entspringt) lautet daher: Eine über ihr Verhältnis zur Gesellschaft nachdenkende akademische Disziplin wird zu einer erweiterten Sichtweise finden. Thematisch wird nun der Kanon der konventionellen Gegenstände selbst. Thematisch werden die Selektionsmechanismen in der Lehrtradition; auch etwa: die Mechanismen des Vergessens – eines wiederum selektiven Vergessens – oder eines wiederkehrenden Missverstehens.“13 Damit rückt Hofmann die Belange der Lehre mit in das Blickfeld der Bestimmung dessen, was die Universität als Universität in gesellschaftlicher Verantwortung auszeichnet: Es kann nicht nur um das Wißbare gehen, sondern es muß zugleich nach dem des Wissens Würdigen gehen; die Bestimmung des Verhältnisses von Wißbarem (Forschung) zu Wissenswürdigem (Lehre) führt in der Ausformulierung hin zu m.E. neuen Gewichtungen: Denn das Wissenswürdige übergreift insofern das Wißbare und sich selbst, als über das Wissenswürdige die Selektionskriterien für die Bestimmung des wissenswürdigen Wißbaren eingeführt werden. Als vierte These formuliert Hofmann: „Die Bedeutungsmaßstäbe für ihr eigenes Tun aber findet die Universität in dem, was die Gesellschaft selbst – und was den Einzelakademiker als gesellschaftlichen Menschen – bewegt. Die Verantwortung des Wissenschafters liegt in der Auskunftsbedürftigkeit der Menschen unserer Zeit.“14 Und als fünfte und letzte These hält er schließlich fest: „Je mehr also Wissenschaft sie selbst ist, desto eher wird sie zu ihrer gesellschaftlichen Dimension finden und wird sie sich neue Ziele setzen. Nur als freie darf sie sich der Gesellschaft verpflichten. Allerdings (...) nicht der Gesellschaft, wie sie ist, sondern wie sie nach Einsicht der Wissenschaft sein könnte. Von den Möglichkeiten der Gesellschaft her wird Wissenschaft auch ihre letzten Wertungskriterien gewinnen – und Wissenschaft ist befähigt und daher berechtigt, begründete, mit wissenschaftlichen Mitteln selbst erschlossene Werturteile auszusprechen.“15 Nur als freie darf die Wissenschaft bzw. die Universität sich der Gesellschaft verpflichten – aber eben nicht sich der Gesellschaft verkaufen, um den Bogen zu Derridas Überlegungen zu schlagen. Denn verkaufen könnte sie sich nur partikularen Gruppen in der Gesellschaft, also auf Kosten und zum Nachteil anderer Gruppen. Und in Freiheit sich der Gesellschaft verpflichten orientiert auf die dem jeweiligen Zustand der Gesellschaft möglichen anderen Zustände von Gesellschaft; erzwingt also die permanente Reflexion auf das Mögliche und somit auf die andauernde Neubestimmung des Verpflichtungsgehaltes. Insofern ist auch schon für Hofmann die Wissenschaft (die Universität) kein Ist- oder Sollzustand, der ein für allemal verwirklicht worden ist oder je verwirklicht werden könnte, sondern ein Tun (Reflektieren), das im Vollzug das verwirklicht und immer wieder neu verwirklicht, was das Tätigsein dieses Tuns ausmacht.


4.

Mit den Hinweisen auf Werner Hofmann und Jacques Derrida hoffe ich Eckpunkte skizziert zu haben, die eine Alternative zur neoliberalen und neokonservativen Destruktion der Hochschulen und des Bildungssystems insgesamt erkennbar werden lassen. Zugleich ist es genau diese Form von Reflexivität, die erforderlich ist um die Universität als unbedingte verwirklichen zu können, die im Zentrum des Angriffs des Neoliberalismus steht. Erfolgt der Angriff des Neoliberalismus „von Außen“, so agiert der Neokonservatismus dagegen im „Innen der Universität“. Wenn dieses „Innen“ der Universität mit Derrida umschrieben werden kann als ein der souveränen Universität eigenes Wesen und dieses sich verwirklicht in der souveränen Autonomie oder der unbedingten Freiheit ihrer Einrichtungen, in der Souveränität ihrer Rede, ihres Denkens und ihrer Schrift und die Souveränität in Rede, Denken und Schrift sich in einem bestimmten Modus der von ihnen hervorgebrachten Werke zeigt, dass es nämlich performative Werke sind, dann erfordert die Möglichkeit der Herstellung solcher performativen Werke in Rede, Denken und Schrift eine (Ein-)Übung, ein diese Souveränität beachtendes und ermöglichendes Verhalten des Lehrenden gegenüber den Lernenden. Und dies erfordert zunächst ein Fragen nach dem, was den Lehrenden als Lehrenden auszeichnet. „Man wird sich daher fragen müssen, was »professer« heißt. Was heißt »lehren« und »öffentlich erklären«, »sich bekennen zu...«? Was tut man, wenn man, performativ, etwas öffentlich erklärt oder sich zu etwas bekennt, aber auch dann, wenn man einen Beruf, und insbesondere einen Lehrberuf, die Profession eines Professors ausübt?“16 Die Antwort der Neokonservativen und der Neuen Rechten17 lautet: Disziplin, Führung, Gehorsam. Die so Dressierten werden unbestreitbar über bestimmte Kompetenzen, über Wissen und ein Sich-auf-etwas-Verstehen verfügen, sie werden Wissen archivieren und vielleicht auch Wissen produzieren und als Waren verkaufen können – aber weder in ihrer Rede noch in ihrem Denken noch in ihrer Schrift werden sie souverän sein können, indem sie performative Werke hervorbringen. Lehre und Lernen in unbedingter Freiheit muss ganz anderes aussehen – und in der Art und Weise, wie Derrida sich immer wieder als Sprechender gegenüber den seinem Sprechen Zuhörenden problematisiert und positioniert, hat er zumindest vorgeführt, wie der Beruf des Lehrers aussehen könnte, der in seinem öffentlichen Erklären und Bekennen versucht die unbedingte Freiheit des/der sprechend Hörenden und der hörend Sprechenden zu verwirklichen. Und die Wirklichkeit dieser Souveränität sowie die Bedingungen der Ermöglichung dieser Souveränität erweisen sich hier als das Kampffeld zwischen kritischer Wissenschaft und Neokonservatismus und Neuer Rechten, das – bisher zumindest – noch kaum zureichend analysiert wurde.


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